Edelratte oder Bankster?

Der Langenscheidt-Verlag sucht das „Jugendwort des Jahres“. Die Teenager selbst reagieren jedoch eher mit Befremden als mit Begeisterung auf die Aktion: „Das habe ich noch nie im Leben gehört“
Geschmacklos, menschenverachtend und ungezogen: Die Empörung war groß, als der Langenscheidt-Verlag vor ungefähr einem Jahr das „Jugendwort 2008“ kürte. „Gammelfleischparty“ hieß das – und soll im juvenilen Jargon eine Feier von Menschen bezeichnen, die das Lebensalter von 30 Jahren bereits überschritten haben.
2009 wird’s harmloser: Unter den 30 Begriffen, die auf der Homepage des Verlags zum „Voting“ stehen, liegt derzeit mit 44 Prozent das „Rudelgucken“ vorn, ein alternativer Ausdruck fürs „Public Viewing“. Die leicht skandaltauglichen Wörter „AOK-Chopper“ (Rollator) und „Kukidentdampfer“ (Ausflugsschiff) bringen es lediglich auf 0,5 Prozent.
„Holen wir uns Aknestäbchen?“
Trotzdem sorgt die Wahl auch heuer für Irritationen. Nicht jedoch bei sich verunglimpft fühlenden Rentnern oder beleidigten Bildungsbürgern, sondern bei den Jugendlichen selbst, die im Online-Forum des Verlags auf die Barrikaden gehen: „Entweder ich lebe in einer Parallelgesellschaft oder die Jugendsprache aus der Abstimmung ist überhaupt nicht repräsentativ“, schreibt „Raphael“.
„Ich bin Jugendlicher, aber ich habe noch nie gehört, wie eine Person in meinem Umfeld nur eines dieser Worte benutzt hat“, berichtet Mike. „Für mich klingen die eher nach den verschrobenen Erfindungen irgendwelcher alter, verkalkter Wörterbuch-Macher.“ Benutzer „Stefan“ ist sich sicher: „Für den Satz ,Holen wir uns Aknestäbchen?’ würde man unter Jugendlichen zuerst entgeisterte Blicke und nach einer Erklärung lautes Gelächter ernten – und könnte danach allein zur Pommesbude gehen.“
„Ischwör, Alter, war so“
Trotzdem behauptet Langenscheidt, dass alle Wörter von „euch“ eingereicht wurden und es darum gehe, den Sprachwandel zu „dokumentieren“. Eine Online-Recherche der AZ ergibt jedoch, dass Begriffe wie „Kukidentdampfer“ oder „Edelratte“ (kleiner Hund) nur auf Seiten auftauchen, die sich mit dem Wettbewerb beschäftigen – also in keinem einzigen Forum für Heranwachsende, von denen es im Netz Tausende gibt. Das Langenscheidt-Voting wird hier nur belächelt. Einer schreibt: „Anscheinend habe ich jeglichen Bezug zur realen Welt verloren, ich kenne keines der aufgelisteten Wörter. Dabei bin ich erst 18 Jahre alt.“
Einen realistischeren Eindruck gibt nach Meinung der Jugendlichen die Seite kiezdeutsch.de der Universität Potsdam, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt wird. Von den dortigen Analysen fühlt man sich auch eher an U-Bahn-Gespräche erinnert – Kostprobe: „Ischwör, Alter, war so“ (Ich schwöre, dass es so gewesen ist). Klingt natürlich etwas ernüchternder als „Schnecken-Tüv“ oder „Gesichtszirkus“ – und passt weniger ins feine Langenscheidt-Konzept.
Timo Lokoschat