Die Renaissance des Liebestöters

Nicht heiß, aber begehrt: Diesen Winter erlebt die jahrzehntelang verspottete lange Unterhose ein überraschendes Comeback – und spaltet die Männer- und Frauenwelt in zwei Lager
Wer glaubt, wir hätten das Tief Daisy einigermaßen unbeschadet überstanden, handelt möglicherweise vorschnell. Denn die derzeitigen Minusgrade bringen eine Debatte auf den Tisch, die angesichts milderer Winter längst abgeschlossen schien: Dürfen sexuell noch aktive Männer lange Unterhosen tragen oder nicht?
„Diesen Winter werden dreimal so viele geordert wie sonst üblich“, berichtet Hersteller Schießer. Auch die Verbände der Textilindustrie sprechen von zweistelligen Zuwachsraten.
Dabei gelten die so genannten „Long Johns“ in Baumwolle und Feinripp eigentlich seit Jahrzehnten als erotische Katastrophe, werden als „Liebestöter“ verspottet. „Wenn dich eine Frau in dieser Unterhose erblickt, bekommt sie doch sofort Angst, dass du ihr im Bett abkratzt“, fasst der Münchner Schriftsteller Jaromir Konecny die Ablehnung pointiert zusammen.
Doch die Wäschehersteller legen sich ins Zeug: „Die Bilder werden derzeit besonders aufwendig in Szene gesetzt, um sie für den Käufer akzeptabel zu machen“, berichtet Mark Weimreuter, Modeberater beim Männermagazin „Men’s Health“. Oft werde der stigmatisierte Begriff „lange Unterhose“ auch durch ein unverfängliches „Skiwäsche“ ersetzt. Stilexperten wie Weimreuter raten, die Strümpfe über die Unterhose zu ziehen, damit sie beim Beinüberschlag nicht hervorlugt. Außerdem steckt man das Hemd nicht hinten rein, sonst sieht man beim Bücken den Bund.
„Entspannter und erhabener Gang“
Aber ist der Boom am Ende nur ein Resultat des demografischen Wandels, kaufen vor allem Senioren die langen Exemplare? „Nein“, sagt ein Verkäufer vom Münchner Kaufhaus „Ludwig Beck“. „Auch junge Männer besorgen sich zurzeit mindestens ein Paar und gehen damit ganz ungezwungen zur Kasse.“
Selbst der recht jugendliche „Herrenausstatter Blog“ lobt den „entspannten und erhabenen Gang“ bei tiefen Temperaturen. „Dank langer Unterhosen gehen Sie nicht verkrümmt und frösteln auch nicht.“
Sogar die Justiz muss sich derzeit mit dem Trend beschäftigen: So gab ein Schweizer Gericht der Beschwerde eines Sträflings statt, dem die Gefängnisleitung verboten hatte, beim Sport trotz kühler Witterung eine lange Unterhose sichtbar unter der Turnhose zu tragen. Die Begründung des Richters: Auch in der Freiheit sei so ein Look schließlich „nicht anstößig“. Naja.
Timo Lokoschat