Die ganze Welt rätselt

Bereits zum sechsten Mal innerhalb eines Jahres ist an der kanadischen Küste ein einzelner Fuß samt Turnschuh angespült worden. Woher die Füße stammen könnten – das enthüllt der AZ-Krimi.
Ich warf den Schuh in den Fraser-River und blickte ihm versonnen hinterher. In zwei, drei Tagen würde er weit weg von hier in einer der verträumten Buchten an den Ufern der Kanadischen Provinz British Columbia angespült werden und für große Aufregung sorgen. Die Weltpresse würde wieder darüber berichten und rätseln, was es mit den grausigen Funden auf sich hat.
Es war gar nicht so einfach, immer einen passenden Schuh zu finden...
Er würde die Polizei von Vancouver auf eine völlig falsche Fährte locken, so viel stand fest. Seit fast einem Jahr tappen sie im Dunkeln. Denn das, was sie wissen, bringt sie nicht weiter. Im Gegenteil. Viele Gerüchte machen die Runde. DNA-Tests und der Abgleich mit Vermissten-Listen haben zu keinen Ergebnissen geführt.
Wissenschaftler vermuten sogar, dass Meeresströmungen die Füße über mehrere tausend Kilometer transportiert haben könnten. Ebenso kursieren Theorien, es könnte sich um Opfer eines Bootsunglücks oder eines Flugzeugabsturzes handeln. Auch Mafia-Morde wurden schon ins Spiel gebracht.
Die meisten glauben, dass ein Serienkiller dahinter steckt. Lachhaft. Der Right-Foot-Killer? Ein Verrückter, der seinen Opfern die Füße abschneidet. Vielleicht sammelt er nur linke Füße. Die rechten schmeißt er weg. Linke Füße schmecken besser als rechte. Oder so. Warum sollte jemand so etwas tun?
Okay, man könnte einsame Jogger in ein dunkles Keller-Verlies sperren und ihnen den rechten Fuß abtrennen, damit Sie nicht mehr flüchten können. Vielleicht ist der Täter auch ein Bestatter, der einmal aus Langeweile, Frust oder Perversion einen Fuß abgeschnitten und in den Fluß geworfen hatte und nicht mehr damit aufhören konnte.
Die ganze Welt rätselt. Aber es ist ganz anders, als Sie denken. Im Anatomiekurs mussten wir Sehnen und Muskeln freilegen. Der Knochen des Unfallopfers - ein Motorradfahrer - war eh schon glatt durch.
Plötzlich hielt ich den Fuß in meiner Hand, wickelte ihn in eine Plastiktüte und nahm ihn mit nach Hause. Am nächsten Tag auf einer Party unserer Clique unten am Fluss habe ich ihn einfach auf den Tisch gestellt. Großes Gejohle, aber hinterher die Frage: Wohin damit?
Wir konnten ihn ja schlecht in den Müll werfen. Frankie, der größte Spaßvogel aus unserer Clique, hat einem, der schon etwas zu viel getrunken hatte und besoffen unter einem Baum lag, einfach die Schuhe und Socken geklaut, beides dem abgetrennten Fuß übergestülpt und dann in den Fluss geworfen. Ein Spaziergänger hat ihn ein paar Tage später weit weg von hier an der Küste gefunden. Dass der Fund so hohe Wellen schlagen würde, hätten wir nie für möglich gehalten.
Nachts schlichen wir manchmal durch die Gänge des Anatomischen Instituts, vorbei an Präparaten, den Sektionshörsälen und Kühlkammern. Bald fanden wir heraus, wo die Leichen lagerten, die am nächsten Morgen ihren letzen Weg ins Krematorium antreten würden.
Bei uns im Institut landen auf den Seziertischen oft einsame und vergessene Menschen, die niemand vermisst. Wir haben dafür gesorgt, dass sie doch nicht ganz unbemerkt von dieser Welt gehen.
Sabine Thomas