Die dunkle Seite

In der Kriminalstatistik belegen die Türken einen traurigen Spitzenplatz. „Arbeitslosigkeit und Armut sind bei den Türken in München doppelt so hoch wie bei den Deutschen.“ Hinzu kommen Perspektivlosigkeit, geringe Bildungschancen, überlastete Familien und Gewalt. Eine explosive Mischung.
Abendzeitung |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Ein junger Mann ballt die Faust: Rund 224600 Türken leben derzeit im Freistaat. Im vergangenen Jahr wurde 14792 Mal gegen einen von ihnen ermittelt.
dpa Ein junger Mann ballt die Faust: Rund 224600 Türken leben derzeit im Freistaat. Im vergangenen Jahr wurde 14792 Mal gegen einen von ihnen ermittelt.

In der Kriminalstatistik belegen die Türken einen traurigen Spitzenplatz. „Arbeitslosigkeit und Armut sind bei den Türken in München doppelt so hoch wie bei den Deutschen.“ Hinzu kommen Perspektivlosigkeit, geringe Bildungschancen, überlastete Familien und Gewalt. Eine explosive Mischung.

Von Natalie Kettinger

Serkan (21) hat einen Rentner fast totgeschlagen und steht wegen versuchten Mordes vor dem Münchner Landgericht. Sinan(17), genannt der „Terror-Bub vom Kieferngarten“, wurde nach mehr als 60 Straftaten – darunter Raub und schwere Körperverletzung – in die Türkei abgeschoben. Muhlis (24), bekannt als „Mehmet“, darf Deutschland nach mehreren Verurteilungen nie wieder betreten. Alle drei haben türkische Wurzeln, wurden in München geboren – und zu einer Gefahr für die Gesellschaft.

In der Statistik der bayerischen Polizei stellten die Türken zuletzt die größte Gruppe der nichtdeutschen Tatverdächtigen – 14792 Mal wurde ermittelt. Das entspricht 2,2Prozent aller registrierten Delikte, obwohl nur 1,8 Prozent der 12,5Millionen Freistaat-Bewohner vom Bosporus stammen. Woran liegt’s?

Arbeitslosigkeit und Armut als Erklärungsmuster für Gewalt

Ein Grund ist sicherlich, dass die Türken mit 224600 Menschen die größte Minderheit in Bayern sind. Doch reicht das als Erklärungsmuster? „Kriminalität ist immer ein Produkt der gesellschaftspolitischen Entwicklung“, sagt Cumali Naz, Vorsitzender des Münchner Ausländerbeirats und selbst Türke. Die Probleme seiner Landsleute: „Arbeitslosigkeit und Armut sind bei den Türken in München doppelt so hoch wie bei den Deutschen.“ Hinzu kämen Perspektivlosigkeit, geringe Bildungschancen, überlastete Familien und Gewalt. „Beengte Wohnverhältnisse schüren die Konflikte zusätzlich.“

Wie gravierend die Gewaltproblematik ist, zeigen die Studien von Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts in Hannover (KFN) und bis 2003 Justizminister in Niedersachsen.

Für den aktuellen KFN-Forschungsbericht zur Jugenddelinquenz haben er und sein Team tausende Neuntklässler in Hannover, München, Stuttgart sowie Schwäbisch Gmünd anonym befragt und herausgefunden: Fast ein Drittel der türkischen Jugendlichen hat in der Kindheit Züchtigung oder Misshandlung erlebt (wie auch 17 Prozent der deutschen). 18,2 Prozent der jungen Türken wurden noch als Heranwachsende „zu Erziehungszwecken“ geschlagen (Deutsche: 8,4 Prozent).

Für 27,1 Prozent der Teenie-Türken ist es außerdem alltäglich, dass sich ihre Eltern gegenseitig Gewalt antun (Deutsche: 6,2 Prozent). Keine andere Migrantengruppe in Deutschland – weder jugoslawischer noch osteuropäischer Herkunft – wird laut Forschungsbericht mit so viel Brutalität konfrontiert.

Flucht auf die Straße

Die Folge: „Die jungen Türken flüchten vor den häuslichen Auseinandersetzungen auf die Straße und suchen dort nach Lösungen für ihre Probleme – oft genauso handfest“, sagt Naz. „Wenn man sich Serkans Lebensweg ansieht, war die Eskalation beinahe vorprogrammiert.“

Der U-Bahn-Schläger war als Bub selbst Opfer. Sein Vater, ein Alkoholiker, misshandelte Frau und Kinder. 2001 floh die Familie in ein Frauenhaus. „Deshalb“, sagt Cumali Naz, „müssen wir ganz genau hinschauen: Wie geht’s den Familien? Helfen die vorhandenen Angebote überhaupt? Schließlich weiß man von einigen Intensivtätern, dass sie alle möglichen Institutionen besucht haben – ohne Erfolg“.

Zum Beispiel Sinan. Schon als Achtjähriger hatte der Bub Lehrer bestohlen und Mitschüler mit Steinen beworfen. Mit zehn wurde er das erste Mal wegen Körperverletzung angezeigt, kam in ein von Sozialpädagogen und Psychologen betreutes Heim. Sinan flog zur Besserung in die Türkei und nach Finnland. Kaum zurück raubte und prügelte er wieder – 33 Mal in sieben Wochen. „Oft wissen die Eltern nicht, was sie mit ihren gewalttätigen Kindern tun sollen. Sie haben den Kontakt zu ihnen verloren. Für die Jugendlichen ist der Freundeskreis zur Familie geworden. In der Gruppe fühlen sie sich stark – und die Eltern stehen ratlos daneben“, weiß Cumali Naz.

Um die Familien zu unterstützen, haben mehrere Münchner Organisationen Programme gestartet, die sich direkt an die türkischstämmige Bevölkerung richten. „Der Kinderschutzbund etwa bietet seinen Kurs ,Starke Eltern – starke Kinder’ jetzt auch auf Türkisch an“, sagt Cumali Naz. Die Initiative „Acilim“ befasst sich in Vorträgen und Workshops mit den Gewaltursachen. „Und in den türkisch-dominierten Moscheen erörtern wir mit traditionell orientierten Eltern die Fragen: Wie erziehe ich mein Kind? Warum ist Ausbildung so wichtig?“, sagt Cumali Naz.

Jugendkriminalität ist kein Ausländer-, sondern ein Unterschichtenthema

Die Antwort liefert Wissenschaftler Christian Pfeiffer. „Jugendkriminalität ist kein Ausländer-, sondern ein Unterschichtenthema“, sagt er und stellt Bildung in einen direkten Zusammenhang zur Gewalttätigkeit: Während in München zwischen 1998 und 2006 die Anzahl der türkischen Gymnasiasten von 18,1 auf 12,6 Prozent fiel, sei der Anteil der türkischstämmigen Gewalttäter von 27,3 auf 30,9 Prozent gestiegen. Der Anteil der anatolischen Intensivtäter schnellte sogar von sechs auf 12,4 Prozent hoch.

„Bei vielen, die den Anschluss verloren haben, merke ich, dass der Begriff der Gruppen-Ehre plötzlich eine ganz zentrale Rolle spielt. Ihn gilt es zu verteidigen, koste es was es wolle“, bestätigt Cumali Naz. „Wenn man eine gute Bildung genossen hat, setzt man sich mit diesen Begriffen ganz anders auseinander. Schließlich handelt es sich hier um eine mittelalterliche Wertvorstellung, mit der man in einem Rechtsstaat wie Deutschland nicht weiterkommt.“

Deshalb, sagt Cumali Naz, müssten türkische und deutsche Institutionen auch in Zukunft verstärkt zusammenarbeiten – „damit es keine neuen Serkans, Sinans und Mehmets gibt“.

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.