"Der Reiz des Bösen": True Crime boomt, vor allem bei Frauen
Berlin – True-Crime-Formate sind allgegenwärtig. Immer noch. Der Historiker, Medienwissenschaftler und Autor Christian Hardinghaus aus Osnabrück hat sich mit dieser Faszination beschäftigt. Ein Fall aus Panama hat ihn dabei besonders in seinen Bann gezogen und selbst zum Internet-Detektiv werden lassen.
AZ: Herr Hardinghaus, True-Crime-Formate boomen seit Jahren. Man möchte meinen: Der Hype könnte langsam abflauen. Tut er aber nicht, oder?
CHRISTIAN HARDINGHAUS: Wir sind erst mitten drin. Ich erwarte, dass er vielmehr noch zunimmt, bevor er abebbt. Von einem richtigen True-Crime-Boom spricht man erst seit 2014.
Das sind immerhin schon zehn Jahre.
Wahre Verbrechen haben Menschen schon immer interessiert. Es gab immer den Reiz des Bösen, des Unerklärlichen, des Mysteriösen. Selbst im antiken Ägypten hat man sich Geschichten über Mord und Totschlag erzählt. Im Mittelalter war es besonders ausgeprägt – zum Beispiel in Form von Mordballaden.

Warum ist True Crime so erfolgreich?
Es gibt mehrere Ansätze dazu. Erstens ist True Crime sehr spannend und unterhaltsam.
Ist es nicht makaber, wenn wir das unterhaltsam finden?
Nein, wir lassen uns auch gern von Krimis, Thrillern, Gruselgeschichten oder Horrorfilmen unterhalten. Das ist Zerstreuung, viele Leute entspannen, wenn sie sich einen Horrorfilm anschauen. Es gibt auch eine gewisse Angstlust, die die Menschen umtreibt. Ich vergleiche es mit den waghalsigsten Achterbahnen: der Kick, die Angst und hinterher die Belohnung, dass man das durchgestanden hat. Bei True Crime gibt es des Weiteren aber auch noch einen tiefer gehenden Aspekt.
"Tatsächlich werden meistens weibliche Opfer präsentiert"
Welchen?
Es ist auch Infotainment. Frauen geben in Umfragen an, dass sie durch True-Crime-Sendungen lernen. Sie sehen sich einen Kriminalfall an und versetzen sich in die Rolle des meist weiblichen Opfers. Denn tatsächlich werden meistens weibliche Opfer präsentiert. Das ist von den Produzenten so gewollt, weil True Crime vor allem von Frauen geschaut wird. Es gibt eine interessante Erhebung dazu: Frauen fühlen sich zu Fällen hingezogen, bei denen ihnen das Opfer ähnlich ist. Das spricht für das Argument, dass sie davon lernen wollen: Sie stellen sich vor, in eine ähnliche Situation zu geraten, und versuchen, über die Sendung eine Lösung für sich zu finden, wie sie reagieren würden. Das ist ein Phänomen, was den True-Crime-Bereich ausmacht. Es ist das einzige Genre mit Gewalt im Zentrum, das von Frauen als Publikum dominiert wird.
Ist das nicht ungewöhnlich?
Unter dem Aspekt, dass es der Prävention dient, kann ich es nachvollziehen. Es gibt auch weitere Ansätze.
Wann auch Männer einschalten
Welche?
Frauen möchten unbedingt verstehen können, was Menschen dazu antreibt, so böse zu sein. Es spielen psychologische Ansätze eine Rolle. Frauen gelten als empathischer, sind interessierter an Beziehungsgeflechten und wollen verstehen, was den Täter angetrieben hat. Das kann auch ins Gegenteil umschlagen, dass Frauen sich exzessiv damit beschäftigen und eine übersteigerte Angst vor Verbrechen entwickeln. Ein ganz kleines Phänomen in Zusammenhang mit True Crime und Frauen ist auch noch, dass sie eine Faszination für den Täter entwickeln können und versuchen, mit den schlimmsten Serientätern Kontakt per Brief aufzunehmen.
Schauen Männer also kein True Crime?
Männer schauen eher dann zu, wenn Sendungen technische Aspekte haben: neueste kriminalistische Methoden, DNA-Analysen und so weiter. Frauen dagegen schauen sich eher den menschlich-psychologischen Aspekt an.
"Einer der meist diskutierten True-Crime-Fälle im Internet"
Sie haben vorhin schon angesprochen, dass aufgrund des weiblichen Publikums tendenziell mehr Fälle gezeigt werden, in denen Frauen die Opfer sind. Verfälscht das die gefühlte Wahrnehmung?
Es verfälscht zumindest die Statistik, dass mehr Frauen umgebracht werden. Im Grunde ist das nicht so, 80 Prozent der Mordopfer weltweit sind Männer. Nicht aber bei sexueller Gewalt: 70 Prozent der Opfer, die von einem Partner getötet werden, sind Frauen. Auch bei Serienmördern ist die absolute Mehrheit der Opfer weiblich.
In Ihrem neuen Buch "Die Sucht nach Verbrechen" beschäftigen Sie sich auch mit Internetdetektiven, die im Englischen Websleuths heißen. Also Laien, die bei True-Crime-Fällen selbst aktiv recherchieren. Auch Sie sind bei einem Fall eingetaucht. Warum?
Ich bin vor rund drei Jahren auf den Fall von Kris Kremers und Lisanne Froon in Panama gestoßen. Die zwei Holländerinnen sind dort 2014 verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Ich fand das kurios und wollte wissen, was passiert ist. Ich habe mich mit einer Journalistin zusammengetan, die dort ein halbes Jahr investigativ recherchiert hat. Wir konnten die der Öffentlichkeit bislang unbekannten, fast 3000 Gerichtsseiten einsehen und haben daraufhin das Buch "Verschollen in Panama" geschrieben.
Unter Websleuths sind "wahnsinnig intelligente Menschen"
Haben Sie den Fall am Ende gelöst?
Es ist einer der meist diskutierten True-Crime-Fälle im Internet und es geht um den Streit: War es ein Unfall oder ein Verbrechen? Wir haben sehr eindeutige Indizien dafür gefunden, dass dort ein Verbrechen stattgefunden haben muss. Es wurde viel vertuscht und verheimlicht, dafür muss es Gründe geben. Aber wir als Journalisten können den Fall nicht aufklären. Um wirklich etwas ins Rollen zu bringen, müssten die Ermittlungsbehörden in Panama mitmachen. Dort gibt es aber kein Interesse.
Wer sind diese Internetdetektive, die vor allem in den USA viel Zulauf haben und auf eigene Faust ungelösten Fällen nachgehen?
In dieser Community sind wahnsinnig intelligente Menschen - ehemalige Polizisten, Forensiker, Mobilfunktechniker zum Beispiel. Die Communitys sind um 2013 und 2014 entstanden. Es gibt hochprofessionelle Foren mit strengen Regeln, die sich an journalistischen Maßstäben orientieren. Zum Beispiel dürfen Menschen nicht falsch verdächtigt werden. Profis überwachen das. Websleuths müssen nachweisen, dass sie Expertenwissen haben. In Amerika funktioniert das wirklich sehr gut, sodass sie mit Ermittlungsbehörden zusammenarbeiten.
Und in Deutschland?
Es gibt zumindest Ansätze. Aber es muss professionell sein, damit es klappt. In Deutschland wird eher noch in sozialen Netzwerken wie Facebook-Gruppen nach Verbrechern gefahndet. Und dort ist nichts kontrolliert – Stichwort: Hass und Hetze. Die Gefahr ist vorhanden, dass Falschinformationen gestreut oder Menschen mit Klarnamen genannt werden und sie daraufhin Morddrohungen bekommen.
Es gab in der Vergangenheit auch in den USA schon Falschverdächtigungen, zum Beispiel beim Tod einer Touristin im Cecil Hotel in Los Angeles. Netflix hat den Fall aufbereitet.
Das ist immer die Gefahr: digitale Selbstjustiz. Das sind die absoluten Schattenseiten. Es kann natürlich nicht so weit gehen, dass Menschen selbst beschatten oder verhören.

Gibt es True-Crime-Fälle in Deutschland, bei denen Sie noch auf eine Lösung hoffen?
Den Fall Frauke Liebs (2006 in Paderborn getötet, d. Red.) habe ich auch sehr intensiv verfolgt. Ihre Mutter hat sich fast kaputt gekämpft, um herauszufinden, wer ihrer Tochter das angetan hat. Anders als bei Rebecca Reusch aus Berlin (verschwunden 2019; d. Red.), wo es immerhin Verdächtige gibt, tappt man im Fall Frauke Liebs nach so vielen Jahren und so intensivem Profiling völlig im Dunkeln. Da scheint jemandem der perfekte Mord gelungen zu sein – das läuft dem Gerechtigkeitssinn von True-Crime-Fans und Websleuths entgegen.

Und Fälle aus Bayern?
Auch bayerische Cold Cases sind nicht tot. Selbst wenn sie Jahrzehnte zurückliegen, können neue Hinweise zur Lösung des Falles führen. Im Fall Cornelia Hümpfer zum Beispiel, die 1978 in Schweinfurt ermordet worden ist, konnten US-Behörden ihren mutmaßlichen Mörder erst letzten Sommer, 45 Jahre nach der Tat, verhaften. Mord verjährt in Deutschland nicht. Auch deswegen lohnt es sich für Ermittler und auch Internetdetektive, am Ball zu bleiben.
Das neue Buch "Die Sucht nach Verbrechen" von Christian Hardinghaus ist vor wenigen Tagen im Europa Verlag erschienen.
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