Der Online-Knigge
26 Millionen Deutsche sind in Internet-Netzwerken wie Facebook und Twitter unterwegs – und wissen oft nicht, wie sie sich zu benehmen haben. Welche Tipps Experten für die Netikette geben
Kai steckt in der Klemme. Seine Kollegin Kerstin hat ihm eine „Freundschaftsanfrage“ auf Facebook geschickt. Stimmt er zu, wird sie zum Beispiel lesen, woher heute seine dicken Augenränder kommen, dass er gestern bis 3 Uhr nachts mit Freunden unterwegs war, sie wird sehen, dass er im Sommer auf Mallorca Spaß hatte, dass er die Toten Hosen mag und Nordic Walker hasst – viele private Dinge also, die sie eigentlich nichts angehen, wie er findet. Lehnt Kai allerdings ab, wird Kerstin beleidigt sein.
Wie also soll er sich verhalten? Eine Frage, die sich in dieser oder ähnlicher Form täglich viele Menschen in den „Social Networks“ stellen dürften. 26 Millionen Deutsche sind das mittlerweile, davon alleine 10 Millionen auf Facebook. Und während jedes Kind lernt, dass es beim Essen nicht schmatzen soll, herrscht in etlichen Online-Communities immer noch eine große Orientierungslosigkeit, was geht und was verpönt ist.
„Soziale Netzwerke muss man sich wie eine Party vorstellen“, sagt der BR-Journalist und Blogger Richard Gutjahr (gutjahr.biz). „Da platzt man auch nicht einfach so rein, sondern schaut sich um, hört zu, bevor man in die laufenden Gespräche einsteigt.“
Wichtiger als sich mitzuteilen, sei das Teilen. „Wenn du einen spannenden Artikel gelesen, ein neues Restaurant entdeckt oder einen tollen Film gesehen hast, dann wollen das die Leute wissen. Solche Tipps gelten als ,Währung’ bei Twitter und Facebook, weil alle etwas davon haben“, erläutert Moderator Gutjahr.
„Wer will, kann die Absage mit einer netten Botschaft verbinden“
„Schreiben Sie anfangs nicht zu oft“, rät der Karriere-Experte Jochen Mai, der sich auch in seinem neuen Buch „Die Büro-Alltags-Bibel“ (dtv, 14,90 Euro) mit dem Thema Online-Knigge beschäftigt. „Sicher, Sie wollen sich in der Community etablieren. Das versteht jeder. Aber dazu gehört eben auch, dass Sie Ihren Ruf allmählich aufbauen.“
Zu den Fragen, die ihm mit am häufigsten gestellt werden, zählt die nach dem Umgang mit Freundschaftsanfragen – ein Problem, das Mai als Facebook-User selber kennt: „Eine Zeitlang habe ich alle Anfragen akzeptiert, inzwischen bin ich dazu übergegangen, nur Leute zuzulassen, die ich persönlich kenne und mag.“
Aber wie verteilt man die virtuellen Körbe? „Tatsächlich auf Ignorieren klicken, dann weiß der andere auch, woran er ist – einfach gar nichts zu machen, ist kein guter Stil, auch, weil derjenige dann monatelang in der Warteschleife hängt“, sagt Mai. „Wer will, kann die Absage mit einer netten Botschaft verbinden, sich für das Interesse bedanken und etwa darauf verweisen, dass es sich um ein privates Netzwerk handelt.“
Richard Gutjahr versucht damit zu warten, bis er die Person im echten Leben trifft. „Dann erkläre ich, dass ich mich Freude habe, es mir jedoch unangenehm wäre, wenn er meine Belanglosigkeiten lesen oder meine Urlaubsfotos sehen müsste.“
„2009 wurde euphorisch nahezu jeder als Online-Freund akzeptiert“
Und wenn der eigene Chef anfragt? „Ein ganz heikles Thema“, sagt Mai. „Ist man gut befreundet, kann man zustimmen. Ohnehin sollte man in diesem Umfeld nichts Negatives über seine Firma schreiben – das kommt am Ende doch raus, per Screenshot oder auf anderen Wegen!“
Das Recht auf Privatsphäre müsse aber auch ein Vorgesetzter akzeptieren. „Blöd ist es allerdings, wenn man mit 20 anderen Kollegen befreundet ist und nur den Chef draußen lässt“, so Mai. „Dann zieht das Argument mit der Sphären-Trennung nicht, man wird wohl kaum mit allen 20 dick befreundet sein.“ Der Blogger rät generell eher zur Zurückhaltung, nicht nur im Kollegenkreis: „2009 war ein Jahr, in dem euphorisch nahezu jeder als Online-Freund akzeptiert wurde. 2010 wird hier eine Bereinigung einsetzen.“ Er selber sortiere gelegentlich aus. „Je mehr Mitglieder du hast, desto schwieriger wird es, den Überblick zu behalten und einen echten Dialog aufzubauen“, sagt auch Gutjahr.
„Keine Fotos aus der Arbeit oder der privaten Umgebung von Freunden“
Was real wie online gilt: Einmal geschlossene Freundschaften sollten nicht durch penetrantes Verhalten riskiert werden. „Mich stören etwa virtuelle Geschenke wie Kühe und Hühner von Farmville – vor allem von Leuten, die ich bisher nur geschäftlich kannte“, sagt der Münchner Blogger und Online-Unternehmer Michael Praetorius, der auch das Web-TV-Format „Isarrunde“ (isarrunde.de) produziert, in dem unter anderem über die Netikette debattiert wird.
Einige Regeln, die er sich selber gegeben hat: „Keine Fotos aus der Arbeit, Wohnung oder der privaten Umgebung von Freunden. Keine Aufnahmen mit Menschen, die nicht wissen, dass ihr Bild bei Facebook landet. Keine dreckigen Witze oder versauten Links. Auf Urlaubsfotos nur Landschaften.“ Peinlich findet er Posts, „in denen sich andere über ihr Leben oder ihren Job öffentlich auskotzen“.
Endet trotz guten Benehmens eine Online-Verbindung durch Entfollowen oder Entfreunden, rät Karriere-Experte Jochen Mai dies entspannt zu sehen und nicht persönlich zu nehmen. Um die Situation zu vermeiden, will sich Richard Gutjahr ironisch an Kant halten: „Tweete Andere, wie du selbst betweetet werden willst.“
Auf Facebook nerven ihn neben dem „permanenten Anstupsen“ User, die ständig über diverse Quiz-Applikationen mitteilen, welcher Herr-der-Ringe-Charakter zu ihnen passt („Du bist Gandalf“), oder lustig gemeinte Kindereien wie jemanden mit Schafen zu bewerfen.
Gutjahr: „Nichts gegen Schafe – aber wie alt sind wir bitte?“
Timo Lokoschat