Der Fall Kampusch: Ein Rätsel um Gefühle, Pannen und Vertuschung

„Ich bin Natascha Kampusch“, ruft eine damals 18-jährige junge Frau am 23. August 2006 ihren Nachbarn zu. Damit endete ein neun Jahre langes Martyrium - doch noch längst nicht einer der spektakulärsten Kriminalfälle Österreichs. Drei Jahre danach sind viele Fragen offen.
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War achteinhalb Jahre in Geiselhaft. Natascha Kampusch.
dpa 2 War achteinhalb Jahre in Geiselhaft. Natascha Kampusch.
Das Gefängnis: In diesem Haus wurde Natascha Kampusch über Jahre festgehalten.
dpa 2 Das Gefängnis: In diesem Haus wurde Natascha Kampusch über Jahre festgehalten.

„Ich bin Natascha Kampusch“, ruft eine damals 18-jährige junge Frau am 23. August 2006 ihren Nachbarn zu. Damit endete ein neun Jahre langes Martyrium - doch noch längst nicht einer der spektakulärsten Kriminalfälle Österreichs. Drei Jahre danach sind viele Fragen offen.

Um das österreichische Entführungsopfer Natascha Kampusch gibt es drei Jahre nach der Flucht der jungen Frau aus ihrem Kellerverlies mehr Rätsel als je zuvor. Immer neu aufgedeckte Ermittlungspannen halten den Fall konstant in den österreichischen Medien, immer neue Ungereimtheiten nähren Vermutungen über einen möglicherweise größeren Zusammenhang. Warum haben die Behörden so schlampig ermittelt? Gab es Mittäter bis hin zu einem Kinderporno- Ring? Verschweigt das Opfer etwas? Eine Kampusch-Kommission unter dem Vorsitz des ehemaligen Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs erhebt schwere Vorwürfe gegen die Behörden und spricht von Vertuschung.

„Es gibt noch eine große Zahl offener Fragen“, sagt der Leiter der Kampusch-Kommission und Ex-Präsident des Verfassungsgerichtshofs, Ludwig Adamovich. Eine Evaluierung des Falles habe es nach dem Auftauchen der Frau so gut wie nicht gegeben. „Priklopil ist tot und Natascha im Fernsehen – das war die Parole damals“, sagt er.

Für ihn und die weiteren Mitglieder der Experten-Kommission kommt es hauptsächlich auf drei Fragen an: Wie ist die Entführung abgelaufen, ob und wie konnte der Entführer Wolfgang Priklopil das Verlies allein konstruieren und vor allem, gab es Mittäter oder Mitwisser? Wenn dem so wäre, lebten Kampusch und andere potenzielle Opfer heute noch in Gefahr. Fraglich sei auch, ob Kampusch wirklich die ganze Zeit bei Priklopil gewesen sei – „und wenn nicht, wo war sie dann?“.

Der Entführer begeht Selbstmord

Kurz nach dem Auftauchen der Entführten 2006 schien die Geschichte klar: „Ich bin Natascha Kampusch“, ruft die damals 18-Jährige am 23. August nach ihrer Flucht in Strasshof in Niederösterreich Nachbarn zu. Bei der Polizei wird sie sofort von Beratern und Anwälten in Beschlag genommen. Noch am selben Tag wirft sich Priklopil, der sie entführt und achteinhalb Jahre in einer Fünf-Quadratmeter-Zelle hinter einer Panzertür gehalten hat, vor einen Zug und stirbt. Dann bricht der weltweite Medienrummel um die junge Frau los, die auffällig gefasst und gebildet in die Öffentlichkeit tritt. Sie gibt Interviews, bekommt ihre eigene Talkshow und ihre Mutter Brigitta Sirny schreibt über „Verzweifelte Jahre: Mein Leben ohne Natascha“ ein rührseliges Buch.

2008 spricht dann der ehemalige Chef des Bundeskriminalamtes (BKA), Herwig Haidinger, erstmals öffentlich von nicht ernst genommenen Hinweisen und Vertuschung. Eine neue Kommission soll die Wogen glätten. Diese kritisiert Ermittlungspannen nach der Entführung des Mädchens – aber auch nach dessen Flucht. Der Fall wird neu aufgerollt, BKA und Staatsanwaltschaft forschen in Richtung mehrerer Täter und Kinderpornografie im Umfeld Kampuschs – finden aber nichts. Dann wendet sich die Juristen-Kommission an die Öffentlichkeit. Inzwischen hat die Oberstaatsanwaltschaft die Sache übernommen.

Wird etwas vertuscht?

„Es macht einen ganz kribbelig, wenn man genau weiß, wo die kritischen Punkte sind, aber selbst nichts tun kann“, sagt Adamovich. Seine Kommission dürfe ja nicht selbst ermitteln und auch aus diversen Gründen wie Amtsverschwiegenheit und Opferschutz nicht alles sagen, was sie wisse. Für Verschleppungstaktik der Behörden kann es seiner Ansicht nach drei Gründe geben: Falsch verstandener Opferschutz, die Vertuschung von Ermittlungsfehlern direkt nach der Flucht und mögliche Mittäter mit Einfluss, die kein Interesse an der Aufdeckung des Falles haben. „Diese Gründe sind durchaus kombinationsfähig“, so der Jurist. (dpa) Rückendeckung erhält Adamovich, der in den letzten Wochen öffentlich heftig als „Verschwörungstheoretiker“ in der Kritik stand, vom Chef der österreichischen Antikorruptions-Agentur Transparency International, Franz Fiedler. „Wer Adamovich kennt, weiß, dass er solche Dinge nicht einfach so behauptet“, sagt Fiedler, der Chef des Rechnungshofes war. Es stehe eindeutig fest, dass nach der Flucht nicht alles so sichergestellt und ermittelt wurde, wie es sein soll. Wichtiges Beweismaterial wie ihr Tagebuch sei Kampusch direkt ausgehändigt worden. „Es ist weiterhin offen, ob nicht weitere kriminelle Handlungen im Hintergrund stehen“, sagt er. Immer wieder ins Blickfeld gerät dabei Nataschas Mutter Brigitta Sirny. Mit der Interview-Aussage, dass es Natascha in der Gefangenschaft allemal bessergegangen sein könnte als davor, sorgte Adamovich für Aufregung. „Aber sie hat mich nicht verklagt, und sie weiß warum“, sagt der Jurist. Sicher sei, dass Kampusch als kleines Mädchen mindestens geschlagen wurde und in einem traurigen Milieu aufgewachsen sei. Die Betroffene selbst, heute 21 Jahre alt, zieht sich im momentanen Rummel aus der Öffentlichkeit zurück und holt ihren Schulabschluss nach. „Mir selbst ist nie ein weiterer Täter begegnet“ sagt sie in einer Videobotschaft auf ihrer Website www.natascha- kampusch.at. Natürlich habe seine Mandantin Interesse an einer Aufklärung, doch bisher sei alles reine Spekulation und die Diskussion darum für sie sehr verletzend, sagt ihr Anwalt Gerald Ganzger. In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ sagt Kampusch: „Ich fühle mich wie eine Pflanze, die irgendwohin geschwemmt wird, kurzfristig Wurzeln fasst, dann weiter treibt.“

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