Der Druck auf die Jugendämter steigt
Lea-Sophie, Jessica, Kevin – verhungert, verwahrlost, die Leiche versteckt. Bei den steigenden Zahlen von verwahrlosten Kindern in Deutschland rücken die Jugendämter in ein immer schlechteres Licht. Denn in vielen Fällen kommt die Frage auf: Hat das Jugendamt geschlafen?
HAMBURG Nachrichten eines Tages: In Schwerin stehen die Eltern der verhungerten Lea-Sophie (†5) vor Gericht. In Memmingen wird ein junges Paar zu monatelanger Haftstrafe verurteilt, weil sie ihr Baby in einer verwahrlosten Wohnung zurückließen. In Gera sagt eine 24-Jährige aus, sie habe ihre Tochter auf den Boden geschlagen, weil das Mädchen dauernd schrie. In Stuttgart wird ein Bub obduziert – er lebte bis zu seinem Tod bei seiner psychisch kranken Mutter. Auch der „Tatort“ vom Sonntag drehte sich um Kindesverwahrlosung. Und die immer wieder aufkommende Frage: Hat das Jugendamt geschlafen?
Lea-Sophies Großvater bekräftigte das gestern im Fall seiner Enkelin vor Gericht. Dreimal sei er zum Amt gegangen. Doch statt einen Mitarbeiter vorbeizuschicken, habe das Jugendamt ihn nach seiner Einschätzung gefragt – ob denn Kindeswohlgefährdung vorliege. Wenige Wochen später starb Lea-Sophie. Unterernährt, dehydriert, mit einem Gewicht von knapp 7,4 Kilogramm.
„Es passiert leider, dass eine Meldung nicht ernst genommen wird“, sagt Manfred Neuffer, Professor für Sozialarbeit in Hamburg der AZ. Dann tauchen die Namen der Kinder in den Medien auf: Lea-Sophie, Jessica, Kevin – verhungert, verwahrlost, die Leiche versteckt.
Vieles lässt sich auf die starke Unterbesetzung der 600 Jugendämter in Deutschland zurückführen. Aber nicht alles. Es krankt an der Organisation „Keine zwei Jugendämter sind gleich", so Neuffer. Kinder-und Jugendhilfe ist Aufgabe der Kommunen, Standards gebe es keine.
Durch die zahlreichen Kindsmorde steigt der Druck auf die Ämter. „Die meisten Mitarbeiter sind verunsichert. Manche haben regelrecht Angst“, sagt Neuffer. „Auch deshalb geht man wieder dazu über, die Kinder eher aus der Familie herauszunehmen.“
Doch genau das soll das Amt eigentlich verhindern. Es sollte viel früher eingreifen. „Gerade die Bindung von jungen Eltern zu ihrem Kind ist geringer geworden. Mit Frühförderprogrammen kann man hier unterstützen“, sagt Neuffer.
Die Eltern – sind sie überfordert? Seit 1991 hat sich der Anteil von Familien, die Hilfe beim Jugendamt suchen, versechsfacht. „Geschlagene Kinder gab es immer, aber dieses brutale Verhungern lassen ist neu“, sagt Neuffer, „die Dramatik ist stärker geworden“. Eine gesellschaftliche Entwicklung, die vor allem auf einer Perspektivlosigkeit beruhe, meint Neuffer. „Diese Eltern haben keine Vorstellung, was Familie ist und in welche Welt ihre Kinder hineinwachsen sollen.“ akk
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