"Das Schlimmste sind die Kunden"

Die dunkle Seite der bunten Supermarkt-Welt: Wie und warum Kassiererinnen beschimpft und beleidigt werden. Eine Betroffene packt aus
von  Abendzeitung

Die dunkle Seite der bunten Supermarkt-Welt: Wie und warum Kassiererinnen beschimpft und beleidigt werden. Eine Betroffene packt aus

Biep. Biep. Biiiiiep. Das Laufband, auf dem drei Sixpacks Bier liegen, ruckelt, bleibt stehen. Bevor die Kassiererin reagieren kann, blafft der Kunde sie an: "Verdammt, können Sie nicht aufpassen, mir pressiert’s.“ Während sie nach dem Chef ruft, schimpft er weiter: "Warum haben Sie nichts Gescheites gelernt, anstatt hier zu sitzen und mich zu nerven.“ Beifall heischend dreht er sich zu den Wartenden hinter ihm. "Hab ich nicht Recht?“ Die meisten nicken. Als sei das nicht genug, stupst eine Frau ihre Tochter an und sagt laut: „Wenn du in der Schule nicht fleißig bist, wirst du mal enden wie diese Frau hier.“

Diese Frau heißt Sabine Konrad (Name geändert) – und muss sich, so befremdlich es auch klingt, solche Sprüche täglich anhören. Die dunkle Seite der bunten Supermarkt-Welt: „Ich habe mir inzwischen ein dickes Fell zugelegt, aber weh tut’s trotzdem“, sagt sie zur AZ. Der Ärger beginne schon bei den Plastiktüten. „Weil ich sie nicht umsonst hergeben darf, werde ich als dumme Kuh abgewatscht.“ Die 41-Jährige ist gelernte Einzelhandelskauffrau, verheiratet, hat zwei Kinder und „muss mitverdienen“.

Bücher, Urteile, Filme über den Arbeitsalltag in Discountern

Wie der Arbeitsalltag in den Discountern aussieht, ist spätestens seit dem Überwachungsskandal bei Lidl 2008, bekannt. Jetzt der Wirbel um die Berliner Kassiererin, die nach 31 Dienstjahren gefeuert wurde, weil sie zwei Pfandmarken im Wert von 1,30 Euro unterschlagen haben soll. Dazu kürzlich Ulrike Volkerts „Tatort: Mord im Supermarkt“, in dem gezeigt wurde, unter welchem Druck die Angestellten stehen. Noch mehr Einblicke gibt das Buch von Anna Sam „Das Leiden der Kassiererin“ (Riemann-Verlag).

Acht Jahre lang hat die Französin im Supermarkt kassiert. Erst, um ihr Studium zu finanzieren, dann, weil sie mit ihrem Literaturdiplom keine Arbeit fand. Zum Schluss hat sie abgerechnet und aufgeschrieben, was sie erlebt hat. Ihr Buch ist in Frankreich bereits ein Bestseller und soll verfilmt werden. Anna Sam amüsiert das: „Seit wann taugen Kassiererinnen als Stars?“

Da muss auch Sabine Konrad lachen. Seit neun Jahren scannt sie in einem großen bayerischen Supermarkt täglich hunderte Waren ein – vom Schokoriegel bis zum Fernseher – und hält die Hand fürs Geld auf: „In meinem Job ist nichts glamourös. An der Kasse bist du der letzte Depp, die Schlampe vom Dienst.“ Und dafür gebe es noch nicht mal Schmerzensgeld. „Vom Gehalt einer Kassiererin kann niemand leben“, sagt sie. 7,87 Euro ist der Stunden-Tarif im ersten Jahr. Manche kriegen aber auch nur vier, fünf Euro. Inklusive dem Dauer-Gebiepe an den Kassen in allen Tonlagen, von dem man, so Sabine Konrad, „einen Vogel kriegen kann“. Dazu Rückenschmerzen und Erkältungen, weil es ständig zieht. Ganz zu schweigen von unzumutbaren Arbeitsbedingungen, Leistungsdruck, unbezahlten Überstunden, Mobbing, Schwarzbüchern...

300 Mal am Tag nach der Kundenkarte fragen

Themen, die Anna Sam in ihrem Buch nicht fokussiert. Sie schreibt über „viel Schlimmeres – die Kunden“. Auf 171 Seiten betreibt sie Kundenkunde über Schweiger, Selbstdarsteller, Stänkerer und Spaßvögel, seziert mit liebevoller Ironie die Biep-Welt, in der Kassiererinnen wie Sabine Konrad 300 Mal am Tag fragen: „Haben Sie eine Kundenkarte?“

Sie hat für die AZ Anna Sams Buch gelesen und sagt: „Ich habe mich oft wiedererkannt. Das Schlimmste sind wirklich die Kunden. Sie schauen durch einen durch, nehmen einen höchstens wie einen Roboter wahr.“

Umgekehrt sind ihre Wahrnehmungen konkreter. Da ist der Kerl mit dem Leergut-Zettel. Spuckt an der Kasse seinen Kaugummi rein und drückt ihn ihr in die Hand. Oder der Anzugträger, der sich weigert, den Karton mit den Milchtüten aufs Band zu legen, und nur eine hochhievt. Klar, dass sie stutzig wird – und fündig: Er hat zwei CDs darunter versteckt.

„Geklaut wird in den jetzigen Krisenzeiten mehr als früher“, sagt sie. Manche überkleben teure Etiketten mit billigen, andere geben gekaufte Ware als mitgebrachte aus. „Notfalls rufe ich den Chef oder die Security“, sagt Sabine Konrad. „Aber erstmal sollen wir's im Guten versuchen. Der Kunde ist König.“ Egal, wie er sich aufführe. In den letzten Jahren seien die Leute immer aggressiver und dreister geworden.

An guten Tagen, schreibt Anna Sam, „ist der Kassen-Platz ein Logenplatz“. Der Supermarkt als Theaterbühne, als Spiegelbild der Gesellschaft? „Komödien laufen selten“, sagt Sabine Konrad trocken. „Klar gibt’s nette Kunden, die auch mal Anteil nehmen, wenn ich vergrippt bin, aber die meisten grüßen nicht mal.“ Eine Kettenreaktion? Behandelt der, der Waren unter Wert kauft, auch die Kassiererin unter Wert?

Psychologin empfiehlt eine "Lächel-Offensive"

„Die Kassiererin vertritt eine Kontroll-Instanz, die mag instinktiv niemand“, sagt Dorothea Böhm, Psychologin und Karriere-Coach. „Bei ihr ist Zahltag. An der Kasse wird’s teuer und meist teurer als man erwartet hat. Das nervt – und das lassen viele an der Kassiererin aus.“ Hinzu komme: „Viele fertigen ihre Kunden grantig ab. Wenn sie einem dann noch einen ,schönen Tag’ wünschen, klingt das wie Hohn.“ Ihr Tipp: „eine Lächel-Offensive“.

„Wenn ein Lächeln nie erwidert wird“, kontert Sabine Konrad, „gefriert’s einem irgendwann.“

Neulich hat eine Kollegin von ihr eine Flasche Prosecco mitgenommen, eine Billig-Marke unter drei Euro. „Versehentlich, sie hat sich sofort entschuldigt. Aber sie wurde gefeuert.“ Die 41-Jährige zögert und sagt: „Diebstahl ist Diebstahl und nicht okay. Aber die Käufer lässt man laufen und uns hängt man hin.“

Renate Schramm

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