Das Recht der Faust

Jam und Ero aus Hamburg sind jung und kriminell. Was im Strafgesetzbuch steht, kümmert sie nicht. Sie leben nach eigenen Regeln.
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Keine End der Gewalt
dpa Keine End der Gewalt

Jam und Ero aus Hamburg sind jung und kriminell. Was im Strafgesetzbuch steht, kümmert sie nicht. Sie leben nach eigenen Regeln.

Als die Frau die Schlagstöcke sieht, weiß sie, dass es ein Fehler war, die Tür zu öffnen. Vor ihr stehen drei Jungs. Die Kapuzen ins Gesicht gezogen, die Blicke gesenkt. Alle tragen Knüppel, Stahl ummantelt mit Gummi. Einer tritt gegen die Tür, schiebt einen Arm durch den Spalt, packt die Frau am Hals. „Mach auf“, sagt er. Sie beißt in seine Hand. Drückt die Tür zu.

Aus dem Fenster beobachtet die Frau, wie die Jungs über den Innenhof schlendern. Sie lachen.

Jam reibt seinen Daumen. „Die Schlampe wollte den abbeißen“, sagt er und grinst. Sein Gang ist breit und das Gesicht voller Narben. Über seiner Lippe wächst ein schwarzer Flaum. Jam ist 16. Er sagt: „Egal, klatschen wir halt eine andere.“

„Jungs, lass’ mal Puff gehen, ich hab’ Druck“

Das Strafgesetzbuch zählt wenig in Jams Welt. Zwischen den Betonbauten im Hamburger Stadtteil Dulsberg herrschen andere Regeln. Sie handeln von „Ehre und Respekt“. Es gilt das Gesetz der Straße: das Recht der Faust.

„Jungs, lass’ mal Puff gehen, ich hab’ Druck“, sagt Jam. Die Jungs - das sind Kamu, ein Afghane mit Lederjacke und zwei Schlagringen in der Hosentasche; und Maksim, ein Russe mit Narben auf dem Schädel und einer halben Flasche Wodka im Blut.

Jam klingelt an der Tür eines Hauses mit verschimmelter Fassade. Eine Frau im Tanga öffnet. Drinnen riecht es nach Kokosduftbaum und Schweiß. Eine Deckenleuchte wirft pinkfarbenes Licht auf die nackten Knie von zwei Frauen an der Bar. Jam geht auf die Blonde zu und steckt seine Hand in ihren Slip. „Machst du auch Arsch?“, fragt er. Die Blondine haucht ihm etwas ins Ohr und zieht ihn in ein Zimmer. Kurze Zeit später wummert Techno durch die geschlossene Tür. Kamu setzt sich an den Tresen. Maksim bleibt stehen. „Hat der überhaupt Cash?“, flüstert er.

„Mein Onkel hat mir gezeigt, ein Mann zu sein, ich liebe ihn“

Nach zehn Minuten verstummt die Musik. Jam stolpert aus dem Zimmer, der Gürtel offen, Schweiß auf der Stirn. „Mein Geld“, ruft die Prostituierte. „Halt dein Maul, du Schlampe, ich hol’ Geld aus Auto“, sagt Jam. Er zwinkert seinen Freunden zu. Die Jungs haben verstanden. Sie rennen.

Vor vier Jahren ging Jam zum ersten Mal in ein Bordell. Sein Onkel nahm ihn mit, er ist Zuhälter. Von ihm hat Jam gelernt, wie man Prostituierte anpacken müsse. Dass er sie ausrauben darf und schlagen. „Prostituierte sind Hunde, die verdienen keinen Respekt“, sagt Jam.

Sein Onkel zog dem Jungen auch den abgebrochenen Hals einer Bierflasche durchs Gesicht, als er zum ersten Mal mit dem Streifenwagen nach Hause gebracht wurde. Jam hatte Spielzeugautos gestohlen, damals war er sieben. Heute sagt er: „Mein Onkel hat mir gezeigt, ein Mann zu sein, ich liebe ihn.“ Die Narbe von der Flasche zieht sich quer über Jams Nase.

Mit einer 1 in Mathe kann er auf der Straße niemanden umhauen

Abgeschreckt hat ihn diese Strafe nicht. Jam klaut weiter. In der Grundschule hatte er Probleme mit Lesen und Rechnen. Was er kann, zeigte er in der Pause: Erst schlug er die Mitschüler, dann zerlegte er einen Stuhl auf dem Kopf des Hausmeisters, warum, weiß er nicht mehr. In der dritten Klasse schickten ihn die Lehrer auf eine Sonderschule. Heute kann Jam 70 Kilo Bank drücken, aber wenn er 6 mal 8 rechnen soll, fängt er an zu grübeln. Mit einer 1 in Mathe kann er auf der Straße niemanden umhauen, mit einem Kinnhaken schon. Jam hat das früh kapiert.

„Diggas, die Prostituierte stinkt“, sagt er, riecht an seiner Hand und rotzt auf den Boden. „Lass mal was trinken.“ Er geht in einen Kiosk. Der Besitzer, ein Türke mit Schnurrbart, springt auf, als er Jam sieht. Drei Mal schon haben die Jungs seinen Laden überfallen. „Hast du Orangensaft?“ Der Mann schüttelt den Kopf. Jam spuckt auf die Fliesen. Er nimmt eine Cola, legt 50 Cent auf den Tresen. Auf der Flasche klebt ein Preisschild, 1 Euro steht darauf. „Stimmt so, und nächstes Mal hast du Orangensaft, du behindertes Opfer“, sagt Jam und geht. Der Mann nickt. Er zittert.

„Hier komm’ ich her, hier gehör’ ich hin, das ist meine Straße.“

Jam hat sich seinen Ruf erkämpft. Und mit dem Respekt kam der Ärger mit der Polizei: Raub, Diebstahl, Hehlerei, Körperverletzung. Erst redeten die Polizisten mit ihm, dann ließen sie Jam zur Strafe im Altenheim fegen, dann versuchten sie es noch mal mit reden, schließlich schlossen sie ihn einen Monat weg – Jugendarrest.

Seitdem trainiert Jam im Fitnessstudio öfter seine Beine. „Damit ich besser durchziehen kann, wenn die Bullen mich jagen.“ Und außerdem versucht er, weniger Leute zusammenzuschlagen: „Bringt nur Spaß.“ Er raubt jetzt lieber Handys und Portemonnaies: „Bringt Cash.“

In der U-Bahnstation Straßburgerstraße treffen die Jungs auf Ero. Er ist 15, trägt eine schwarze Bomberjacke, hat die Haare an den Seiten wegrasiert und auf dem Kopf raspelkurz, er nennt das Kanakenschnitt. Jam und Ero küssen sich zur Begrüßung die Wangen, sie sind beste Freunde.

Ero spricht gut deutsch, spielt Fußball im Verein und geht auf die Realschule. „Meine Lehrer sagen, dass ich es hier raus schaffen könnte, aber die verstehen gar nichts“, sagt er. Ero will nicht weg aus Dulsberg. „Hier komm’ ich her, hier gehör’ ich hin, das ist meine Straße.“ Es sind Zeilen aus einem Rap, den er geschrieben hat.

„Hast du keine Ehre, du Missgeburt?“

Die Jungs kaufen sich einen Döner. Jam, Ero, Kamu und Maksim beißen abwechselnd ins Fladenbrot. „Wir teilen alles wie Brüders“, sagt Jam, während er sich Zaziki vom Kinn wischt. Und Ero ergänzt schmatzend: „Wenn einer Essen hat, essen wir alle, und wenn einer Schläge bekommt, halten wir alle den Kopf hin.“

Sie gehen in einen Supermarkt. „Kippen zocken.“ Jam und Ero stopfen Schachteln in ihre Ärmel, bis nichts mehr reinpasst. Jeder könnte das sehen, aber keiner schaut hin. Die Kassiererin konzentriert sich auf eine alte Frau mit Kopftuch, die ihre Pfirsiche nicht bezahlen kann - ihr fehlen 10 Cent. „Dann müssen Sie einen zurückgeben“, sagt die Kassiererin. Ero hört das. Er kramt in seiner Tasche und holt eine Münze hervor, drückt sie der Frau in die Hand. „Hier Oma“, sagt er. Und zur Kassiererin: „Hast du keine Ehre, du Missgeburt?“ Dann gehen die Jungs aus dem Geschäft.

Die Zigaretten teilen sie auf. Maksim und Kamu steigen in die nächste Bahn. Sie wollen ihren Teil der Beute an einen Kiosk verkaufen. Ero denkt noch an die Frau mit den Pfirsichen. „Digga, die hat mich an meine Oma erinnert. So einer kann man doch nicht das letzte Geld abzocken, die kann sich nicht wehren.“

„Ich hab’ heute Strafbefehl bekommen“

Zu zweit schlurfen Jam und Ero durch ihr Viertel. Sie reden über die Zukunft: Jam hofft, dass er irgendwie irgendeinen Schulabschluss schafft; er würde gern am Flughafen Gepäck verladen. Ero möchte Anwalt werden und seine Freunde aus dem Jugendknast befreien. Vielleicht wollen er und Jam aber doch lieber ein Casino überfallen.

„Ich hab’ heute Strafbefehl bekommen“, sagt Jam plötzlich. „Raub – nicht so schlimm, aber meine Mutter hat wieder geheult.“ Schweigend gehen die beiden weiter. Ero legt seinem Freund die Hand auf die Schulter.

Zwei Jugendliche kommen ihnen entgegen. Sie tragen Baseballmützen, breite Hosen, einer hat glitzernde Stecker in den Ohren. Stumm gehen die Jungs aneinander vorbei. Nach ein paar Metern sagt Jam: „Digga, hast du die Brillis gesehen?“ Er meint die Ohrringe. „Lass uns die Typen mal hauen gehen.“ Ero lächelt und dreht sich um.

Takis Würger

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