AZ auf den "Floating Piers": Wie Christo übers Wasser gehen
Ein Hausfloß gleitet über den See an einem der neon-gelben Stränge der "Floating Piers" entlang. Auf dem Dach steht – von ein paar Männern umringt – einer im Westen-Anorak mit grau-wehender Künstlermähne. Applaus brandet entlang seiner Route auf, denn die goldgelben breiten Schwimmteppich-Läufer über den Lago d’Iseo sind bevölkert mit tausenden Flaneuren. Sie danken ihrem Künstlerkönig und winken ihm zu. Der aber achtet nicht sonderlich darauf, sondern strebt auf seinem Arbeitsschiff der Isola San Paolo zu. Auch diese Privatinsel kann man jetzt erstmals zu Fuß vom Ufer aus erlaufen – über die insgesamt über fünf Kilometer langen Kunstpilgerwege, die schon an Land beginnen, um dann in schwimmende Fußgängerstraßen überzugehen.
Waffen-Boss half bei der Realisierung des Projekts
Aber jetzt – schon am ersten Nachmittag – sind sie um San Paolo bereits wieder geräumt. Denn jetzt stattet der Zeremonienmeister einem Milliardär seinen Dankesbesuch ab: Christo trifft Franco Beretta, den Rüstungsboss. Er hat seinen Freund Christo unterstützt, 16 Dorfbürgermeister und den zuständigen Provinz-Präfekten zu überzeugen, für die kommenden 16 Tage den kleinen, unbekannten Bruder des Gardasees, den Lago d'Iseo, zu einem Riesenmagneten der Kunst- und Massenevent-Szene zu machen. Und diese beiden fallen bei niemandem so klar zusammen wie bei diesem 80-jährigen Bulgaro-Amerikaner.
Noch am Tag zuvor hatte man Christo auf einem der vielen für Sicherheit und Logistik sorgenden Schnellschlauchboote sehen können, um die letzten Problemzonen seines umspülten Kunstareals zu besichtigen. Wie ein Magier hatte er auf einer Pressekonferenz in seiner Ausstellung in der Provinzhauptstadt Brescia geheimnisvoll offengelassen, wann genau an diesem Samstag er die Zugangs-Brückenstege öffnen lassen würde.
Ein Volksfest der Flaneure
So harrten einige Tausend ab Mitternacht in Sulzano am Ufer aus, obwohl Regenschauer eine Freigabe eher unwahrscheinlich werden ließen. Aber viele wollten die ersten sein, diese noch jungfräulichen Wasserwege zu betreten, die in dieser Nacht immer nur kurz im schwarzblauen Bergseewasser surreal orange aufglühten, wenn die dicken dunklen Nachtregenwolken den Fastvollmond freigaben. Gerüchte gingen wie Lauffeuer um den See und erfassten auch die Hunderten von Freiwilligen mit ihren dunkelblauen Funktionskleidern mit einem gelben Christo-Schriftzug aus der Region Bergamo: bei Sonnenaufgang!
Aber es wurde 7.40 Uhr, als Christo in der Morgensonne eines auch hier in Norditalien in diesem Jahr bisher seltenen Sommertages das Funkzeichen gab, die Absperrungen zu öffnen. Ein Volksfest der Flaneure konnte beginnen, auch wenn bereits der erste der halbstündlich geplanten Sonderzüge aus Brescia durch Gegen-Aktivisten mit Zweigen auf der Strecke gestoppt worden war.
Zu Fuß auf die Insel des Handfeuerwaffen-Magnaten
Denn von den 15 Millionen Euro Projektkosten hat eine größere Summe der Handfeuerwaffen-Magnat Franco Beretta übernommen. Aber der würde wohl nicht weiter in Erscheinung treten, dachte man. Aber sag’ niemals nie. Seine Frau hatte auf Instagram bereits die ersten Bilder von sich veröffentlicht, wie Massen an ihrem Insel-Villenfenster vorbeiziehen.
Und dann tritt am jetzt doch richtig warm-sommerlichen Nachmittag Franco Beretta plötzlich auf ein Freitreppchen einer Seitentür seiner ummauerten Privatinsel, die man auf einem der Floating Piers jetzt umkreisen kann. Da steht er lässig stolz in blauem Sakko und heller Hose, nicht unähnlich Klaus Maria Brandauer als James-Bond-Bösewicht, neben ihm zwei Men in Black – mit Pistolen: Berettas, wie anzunehmen ist.
Mittlerweile gehen rund 11.000 Menschen auf den weichen, filzunterlegten warm-orange strahlenden Kunststoff-Pilgerwegen. Viele sind barfuß unterwegs, um das sinnliche Erlebnis zu steigern. Überraschenderweise ist das leicht wellenbewegte Wogen der aus fast einer Viertelmillion Schwimmkanistern zusammengesetzten Wasserstraßen nicht unheimlich, sondern angenehm. Nähert sich eine der Motorjachten mit sportiven Angebern und reichen Neugierigen, so ist das nicht nur sichtbar, sondern durch die Wasserbewegung auch sanft spürbar.
Die Konstruktion verleiht eine heitere, innere Leichtigkeit
Der naheliegende Kalauer-Vergleich – wie "Christo übers Wasser gehen" – ist hier vielleicht nicht spirituell erfahrbar. Aber die Konstruktion verleiht wirklich eine heitere, innere Leichtigkeit. Auch wenn sie hart erarbeitet worden ist. Die Schwimmstege sind an 190 Betongewichten von französischen Spezialtauchern am Seeboden verankert worden. Die hunderttausend Quadratmeter Dalai-Lama-orangen Kunststoffs wurden im deutschen Münsterland gewebt, in Lübeck zurechtgeschneidert nach Schnittmustern, die ein Isartaler aus Icking am Computer errechnet hat.
So atmet Christos neues Großprojekt einen wunderbar europäischen Geist der Zusammenarbeit. Dass er das alles schon zusammen mit seiner 2009 gestorbenen Frau Jeanne-Claude in den 60ern für das Delta des Rio de la Plata geplant hatte, tut da keinen Abbruch. Hier hat es eine leuchtende Erfüllung gefunden. "Ich bin bald 80 Jahre, und habe nicht mehr viel Zeit", hatte Christo seinem schwäbischen Freund, Fotografen und Mitmanager Wolfgang Volz vor drei Jahren gesagt.
24 Jahre hatte sich Christos Projekt, den Reichstag in Berlin zu verhüllen, hingezogen, zehn Jahre brauchte er bei der Verkleidung der Pont Neuf in Paris, um die Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Hier jetzt ging es entgegen aller Italien-Klischees sehr schnell. Und dass man mit dem Auto nicht nah heranfahren kann, sondern zu Fuß, per Schiff oder Zug kommen muss, ist eine Intensivierung des Erlebens wie die reinigende Abwesenheit jeglicher Sponsoren-Penetranz.
Kunstfarben als größtmöglicher zivilisatorischer Kontrast zur Natur
Von einer Art "Land Art" sprechen viele bei den Christo-Projekten, weil sich hier oft Natur und Kunst begegnen – in Wüsten, an Flüssen, im New Yorker Central Park. Aber Natur und Kultur gehen bei Christo keine Symbiose ein. Vielmehr wirken die intensiven Kunstfarben als größtmöglicher zivilisatorischer Kontrast zur Natur. Und das Nylon-gewebte Gelborange ist auch hier Gegensatz zum dunklen Blaugrau des Sees, dem Dunkelgrün von Pinien und dem Steingrau der Häuser, Burgen und Berge im Hintergrund. Es ist eine der reichsten Regionen Europas, wo auch Zersiedelung, Gewerbegebiete, Autobahnen und Baustellen die Landschaft brutal prägen.
Christo hingegen zeigt, wie sich Zivilisation modern, aber ästhetisch einfügen könnte in eine hier zweitausendjährige Kulturlandschaft. Seine sinnlich erlebbare Kunst der "Floating Piers" ist eine wunderbare, auch körperliche Sensibilisierung, auch darüber nachzudenken.
"The Floating Piers", bis 3. Juli, Sulzano, Lago d’Iseo, in den Vorbergen zwischen Verona und Mailand. Mit Sonderzügen von Brescia alle halbe Stunde erreichbar
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