Abnehmpille: "Das wird ein Durchbruch sein"

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Sie heißen Ozempic, Wegovy oder Mounjaro: Sogenannte Abnehmspritzen haben einen Hype ausgelöst. Nun könnte bald die erste Abnehmpille auf den Markt kommen. Was kann sie im Vergleich zur Spritze – und wie groß ist der Effekt der Medikamente in der Praxis wirklich? Das hat die AZ den Ernährungsmediziner Johannes Sander gefragt. Er ist Chefarzt im Adipositas-Klinikum der Schön Klinik Hamburg-Eilbek, die größte deutsche Adipositas-Klinik. Die Abteilung ist das deutschlandweit größte Zentrum zur Behandlung übergewichtiger Menschen.
AZ: Herr Sander, der US-Hersteller Eli Lilly will für die Abnehmpille mit dem Wirkstoff Orforglipron noch 2025 die EU-Zulassung beantragen. Wie wirkt sie?
JOHANNES SANDER: Der Wirkstoff Orforglipon ist vergleichbar mit dem, den man bereits aus den Abnehmspritzen kennt. Beide gehören zur Klasse der GLP-1-Rezeptoragonisten. GLP-1 ist ein Hormon, das an verschiedenen Stellen im Körper andocken kann und dort die Steuerung von Hunger- und Sättigungsgefühl mitreguliert. Der Industrie ist es gelungen, das nachzubauen, zuerst mit Semaglutid, also das, was in den Abnehmspritzen Wegovy und Ozempic enthalten ist. Und in dieser synthetischen Form hat es zum ersten Mal einen fantastischen Gewichtsverlust gezeigt.
Abnehmpille wirkt schlechter als Spritze
In Studien wird für die Abnehmspritzen ein durchschnittlicher Gewichtsverlust von 15 Prozent angegeben. Für die Abnehmpille liegt er laut von Eli Lilly veröffentlichten Daten bei etwa zwölf Prozent. Wirkt die Pille also schlechter?
Ja, sie wirkt etwas schlechter, aber sie wirkt eben fast genauso gut wie die Spritzen und ist eine echte Alternative. Das Medikament, das statistisch gesehen im Moment am besten abschneidet, ist Mounjaro, das vom gleichen Hersteller stammt wie die Abnehmpille, aber eben in Spritzenform ist. Es enthält den Wirkstoff Tirzepatid und zeigt in Studien eine durchschnittliche Gewichtsreduktion von 20 Prozent.
Warum ist die Wirkung besser?
Weil Mounjaro noch an einem zweiten Rezeptor andockt, nämlich dem GIP-Rezeptor, der eine wichtige Rolle bei der Regulierung des Stoffwechsels spielt. Entsprechend ist die Mounjaro-Spritze auch teurer. In Europa ist das Medikament seit Ende 2023 auf dem Markt.
Auch wenn die Spritze vielleicht etwas mehr Erfolg bringt: Der große Vorteil der Abnehmpille dürfte für viele sein, dass man sie "nur" schlucken muss. Warum hat es so lange gedauert, diese Form zu entwickeln?
Hormone sind Substanzen, die auch aus Eiweißstoffen bestehen, sprich: Protein. Wenn wir eine Tablette schlucken, gelangt das in unseren Verdauungstrakt und der macht damit das, was er soll: verdauen. Da bleibt nicht mehr viel übrig. Deswegen muss man ja beispielsweise auch Insulin spritzen. Die Industrie brauchte lange, um ein Präparat zu entwickeln, das so beschaffen ist, dass der relevante Wirkstoffanteil tatsächlich unverdaut über die Darmschleimhaut den Weg in den Blutkreislauf findet.
Lifestyle-Arznei? "Das verkennt den Ernst der Lage"
Angenommen, ich habe keine Angst vor Spritzen: Woher weiß ich, welches Medikament für mich das richtige ist?
Das ist im Moment tatsächlich schwierig zu sagen, weil es noch keine Langzeit-Studien gibt. Wichtig ist, dass die Medikamente zugelassen sind für die Behandlung von Adipositas und es auch ganz klare Kriterien gibt, ab wann wir sie verordnen dürfen (siehe dazu Infokasten). Das sind keine Lifestyle-Medikamente.
Der Gesetzgeber sieht das anders: Medikamente zur Gewichtsreduktion fallen im Sozialgesetzbuch unter den "Lifestyle-Paragrafen", der eine Erstattung durch die Krankenkassen ausschließt, wenn eine Erhöhung der Lebensqualität im Vordergrund steht.
Da hinkt das Sozialgesetzbuch weit hinter dem wissenschaftlichen Stand her. Der besagt, dass Adipositas in Deutschland offiziell als Erkrankung anerkannt ist. Aber das Sozialgesetzbuch sieht diese nach wie vor als eine Lifestyle-Erkrankung an, die man gefälligst durch ein bisschen weniger Essen und ein bisschen Sport in den Griff kriegen soll. Das verkennt den Ernst der Lage. Wenn sich da nicht auch politisch etwas ändert, werden die Kassen das nicht bezahlen. Zumal deren finanzielle Situation ja ohnehin angespannt ist.

Wie teuer wäre denn die Übernahme durch die Krankenkassen?
Wir wissen, dass in Deutschland gut ein Viertel der Menschen Adipositas hat, also einen Body-Mass-Index über 30. Das sind gut 20 Millionen Menschen, die dann auf einen Schlag ein Anrecht auf dieses Medikament hätten. Im Moment liegen die monatlichen Therapiekosten bei um die 300 Euro. Hochrechnungen kommen bei den aktuell auf dem Markt befindlichen Medikamenten auf Kosten von ca. 40 bis 50 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist so viel, wie wir sonst für alle anderen Medikamente zusammen ausgeben.
"Viele Hausärzte scheuen das Thema noch"
Würden Sie sich trotzdem eine Übernahme wünschen?
Aus Medizinersicht natürlich. Wobei man jetzt erst einmal ganz genau untersuchen muss, ob die Medikamente langfristig auch das halten, was die Zulassungsstudien versprechen. Wenn man nach ein paar Jahren wirklich sieht, dass die Medikamente einen signifikanten gesundheitlichen Vorteil bringen, wird man nicht drumherum kommen, dass auch der Gemeinsame Bundesausschuss (Selbstverwaltungsorgan, bestehend aus Unparteiischen, Vertragsärzten, Krankenkassen und Krankenhäusern, d. Red.) sagt: Ja, die müssen wir zulassen und die müssen auch erstattungsfähig sein. Es gibt derzeit zumindest die Hoffnung, dass die Tablettenform deutlich günstiger hergestellt werden kann und somit auch die Produktionskosten sinken.

Wohin kann ich mich wenden, wenn ich Interesse an einem solchen Medikament habe?
Eigentlich wäre der Hausarzt derjenige, der dafür primär zuständig ist. Aber viele Hausärzte scheuen das Thema noch, weil es sehr neu ist und weil viele sich auch mit dem Krankheitsbild Adipositas noch nicht intensiv auseinandergesetzt haben. Im großstädtischen Bereich gibt es Zentren, die sich auf die Behandlung von Adipositas spezialisiert haben. Diabetologen kennen sich in der Regel gut damit aus, denn die Medikamente kommen ja ursprünglich aus der Diabetes-Therapie. Und auch Praxen für Endokrinologie oder Ernährungsmedizin und Hormonspezialisten sind gute Ansprechpartner.
Wem würden Sie die Spritzen nicht empfehlen?
Es gibt natürlich Kontraindikationen, zum Beispiel, wenn Patienten schon mal eine Bauchspeicheldrüsenentzündung hatten. Bei uns in der Klinik halten wir uns zudem streng an die Indikationskriterien, sprich: Ich würde es niemandem mit einem BMI von 25 verschreiben. Dann gibt es noch einige Wechselwirkungen mit Medikamenten. Zum Beispiel sollte man bei Diabetespatienten, die bestimmte Augenschäden haben, die Medikamente nicht verschreiben, weil sie diese verstärken können. Und wer einen Diabetes hat, sollte es ohnehin nur nach Rücksprache mit seinem Diabetologen nehmen.
"Die Patienten sagen: Ich habe keinen Hunger mehr"
Mit allem, was Sie bisher wissen: Ist die Abnehmspritze eine echte Revolution im Kampf gegen Adipositas?
Bedenken sollte man, dass die sensationellen Abnehm-Ergebnisse unter Studienbedingungen entstanden sind, inklusive dreimal die Woche Sport und einer professionellen Ernährungstherapie. Unter realen Bedingungen zeigt sich bei Wegovy im Moment bei den Leuten statt 15 Prozent eher ein Gewichtsverlust von zehn Prozent. Bei Mounjaro sind es statt 20 Prozent eher 15 Prozent. Und bei der Abnehmpille werden es am Ende vielleicht statt zwölf Prozent eher acht Prozent sein. Das ist deutlich mehr, als mit Vorgänger-Präparaten zu erreichen war, aber: Eine Wunderpille oder eine Wunderspritze gibt es nicht. Ernährungstherapie, Sportprogramm, medikamentöse Therapie. Das sind die drei Säulen, die nötig sind.

Die "klassischen" Ernährungsregeln gelten also trotzdem?
Sie gelten sogar noch mehr. Die Patienten, bei denen die Spritze optimal wirkt, sagen: Ich habe keinen Hunger mehr. Essen interessiert mich nicht mehr. Die müssen aber natürlich trotzdem jeden Tag darauf achten, dass sie alle wichtigen Nährstoffe erhalten. Wenn die das schleifen lassen, kriegen sie gravierende Mangelerscheinungen. Und in Bezug auf Sport gilt: Wenn unser Körper Gewicht verliert, verliert er auch Muskulatur. Diesen Muskelrückgang muss man so gering wie möglich halten. Und das geht nur durch Sport und eine vernünftige Eiweißernährung.
Wenn Sie zehn oder 15 Jahre in die Zukunft blicken: Glauben Sie, dass sich Abnehmspritze und -pille als Therapie Nummer eins für Adipositas durchsetzen?
Ja, das glaube ich – sofern die Langzeitstudien die Erfolge bestätigen. Unter optimalen Voraussetzungen würde ich sagen: Das wird ein Durchbruch in der Adipositas-Therapie sein. Und es sind schon weitere Wirkstoffe in der Pipeline.
Hintergrund: So bekommt man die Spritze
Um Medikamente gegen starkes Übergewicht und Adipositas in der Apotheke kaufen zu können, braucht es ein vom Arzt ausgestelltes Rezept. Die Kriterien laut Ernährungsmediziner Johannes Sander:
- ein Body-Mass-Index (BMI) über 30 der sich trotz Bewegung und Ernährungsumstellung nicht verändert
- ein Body-Mass-Index ab 27, sofern Patienten bereits gewichtsbedingte Folgeerkrankungen haben, etwa Bluthochdruck, Schlafapnoe oder Fettwechselstörungen.
Noch ist die Datenlage nicht eindeutig, doch einige Studien weisen darauf hin, dass die in den Abnehmspritzen enthaltenen Wirkstoffe auch das Verlangen nach Suchtmitteln mindern könnten. So konnte etwa eine klinische Studie aus den USA, die im Februar 2025 in "Jama Psychiatry" erschien, ein geringeres Verlangen nach Alkohol und weniger Alkoholexzesse feststellen.
Dabei wurde 48 alkoholabhängigen Probandinnen und Probanden der in Ozempic und Wegovy enthaltene Wirkstoff Semaglutid oder ein Placebo gespritzt. Auch Untersuchungen zu Nikotin oder Kokain laufen. Allerdings: Experten fordern Langzeitstudien und mehr Forschung. Eine Zulassung zur Suchtbehandlung haben die Abnehm-Medikamente bisher nicht.
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