„2000 Worte würden heute viel weniger bewirken“

1968 wälzten sowjetische Truppen den Aufstand in Prag brutal nieder. 40 Jahre nach dem brutalen Ende des Prager Frühlings: Aus Prag ist eine glitzernde Stadt geworden – zum Ärger der Revolutionäre von einst.
von  Abendzeitung

PRAG - 1968 wälzten sowjetische Truppen den Aufstand in Prag brutal nieder. 40 Jahre nach dem brutalen Ende des Prager Frühlings: Aus Prag ist eine glitzernde Stadt geworden – zum Ärger der Revolutionäre von einst.

Die strubbelige Frisur von damals trägt er immer noch, der Held des Prager Frühlings. Grau ist sie inzwischen geworden und die dicke Hornbrille ist auch neu, aber Ludvík Vaculík ist immer noch ein unbeugsamer Denker – auch mit seinen 82 Jahren. „Dass die Russen einmarschieren würden, das hatte ich damals nicht geplant, als wir den Text veröffentlicht haben“, sagt er heute. In Tschechien wird immer noch spekuliert, dass er es war, der mit seinem provokanten „Manifest der 2000 Worte“ den endgültigen Ausschlag gegeben hat für den brutalen Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen.

Ein gefragter Mann

Heute ist Ludvík Vaculík wieder ein gefragter Mann, genau 40 Jahre nach dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings. In weißem Hemd sitzt er auf Podiumsdiskussionen, jeden Tag bestürmen ihn tschechische Journalisten mit ihren Fragen zu den Geschehnissen. Ob er sein Manifest, jenen Aufschrei der Intellektuellen, noch einmal schreiben würde, wenn er die Folgen voraussehen könnte? Da poltert er los: „Was für eine dumme Frage! Man lebt immer in seiner Zeit, und damals war die Zeit danach!“

Die Tschechoslowakei vor 40 Jahren war ein Land in der Entspannung. „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ hieß das Experiment, die kommunistische Staatsführung schaffte die Zensur ab und entließ die politischen Gefangenen. Wie ein Aufatmen kam es den Tschechen damals vor, ein Aufatmen nach den langen Jahren voller Restriktionen und Staatswillkür – so lange, bis die Truppen des Warschauer Paktes einmarschierten und die neue Liberalität brutal niederwalzten.

Ein historischer Ort

Das Prag von heute ist eine Stadt, wie sie sich die Dissidenten damals im Prager Frühling gar nicht schöner hätten träumen können: Es herrscht Freiheit, das Land ist von Russland losgekommen und längst Mitglied in der EU. Die Prager Gründerzeithäuser säumen in frisch saniertem Glanz ganze Straßenzüge, die Parks auf den Hügeln um die Altstadt stehen in saftigem Grün und allenthalben strahlt unübersehbar der neue Wohlstand auf. Der Ballungsraum rund um die Hauptstadt liegt in Sachen Wirtschaftskraft sogar schon weit über dem EU-Durchschnitt.

Das wirtschaftliche Herz von Prag schlägt am berühmten Wenzelsplatz. Ein historischer Ort: Wenige hundert Meter von hier entfernt haben sich 1967 die Prager Schriftsteller zu ihrem Kongress getroffen. Auch Ludvík Vaculík war dabei, damals war er 41 Jahre alt, und es sollte eine Veranstaltung werden, die das Land veränderte.

Am Rednerpult verlangten die Schriftsteller Meinungsfreiheit, sie forderten grundlegende Bürgerrechte ein, sie kritisierten das kommunistische Regime – ein Affront, wie er bis dahin undenkbar war in der dirigistisch gelenkten Tschechoslowakei. Hier nahmen sie Anlauf für das berühmte „Manifest der 2000 Worte“, hinter dem Ludvík Vaculík stand und das ein knappes Jahr später in vielen Zeitungen erschien. „Wir können einander schon fast nicht mehr vertrauen“, schreibt Vaculik darin: „Die persönliche und kollektive Ehre verfällt. Deshalb hat die Mehrheit der Menschen das Interesse an allgemeinen Gütern verloren und kümmert sich nur noch um sich und ums Geld.“

„Wir sind eine Konsumgesellschaft geworden"

Diese Klage, die heute vierzig Jahre alt ist, scheint allerdings wieder aktuell zu werden – und das, obwohl sich in Tschechien längst die Demokratie gefestigt hat. Die Dissidenten von einst stellen jetzt fest, dass trotz der Freiheit in Tschechien noch keine Bürgergesellschaft gewachsen ist, dass sich kaum jemand für öffentliche Belange engagiert. „Wir sind eine Konsumgesellschaft geworden. Viel lieber sollten wir uns fragen, was eigentlich unsere Werte sind“ – das ist in Prag häufig zu hören, gerade jetzt angesichts des 40. Jahrestages des Prager Frühlings.

Wer auf dem Wenzelsplatz steht, am oberen Ende vor dem tschechischen Nationalmuseum, sieht vor allem Leuchtreklamen. Fast-Food, Jeans und neue Handymodelle werden in schreienden Farben angepriesen, von jeder Fassade schreit ein anderes Schild herunter. Die Miete für lukrative Verkaufsräume ist hier so hoch wie in den begehrten Lagen von London oder Paris.

Ausverkauf der Altstadt

Schon längst klagen die Prager Denkmalschützer über den Ausverkauf der Altstadt: Wo so viel Geld zu verdienen ist, werden die prunkvollen Fassaden nicht immer schonend behandelt, werden historische Gebäude entkernt und alte Dächer einem modernen Penthouse geopfert. „Prag ist in der Hand von Immobilienspekulanten und rücksichtslosen Investmentgesellschaften“, heißt es beim Klub für das alte Prag, einer Art Heimatverein, hinter vorgehaltener Hand. Und immer mehr Tschechen holen ihre westlichen Vorbilder auch bei der Auswahl der Hobbies ein: „Shopping“ antworten viele der Prager, wenn sie nach ihren liebsten Freizeitbeschäftigungen gefragt werden.

Ist das die Freiheit, für die Ludvík Vaculík damals eingetreten ist? Und würde er wieder ein Manifest schreiben? Der Held des Prager Frühlings winkt ab: „2.000 Worte würden heute viel weniger bewirken als damals. Und selbst die 200.000 Stimmen, die bei den Demonstrationen auf dem Wenzelsplatz früher zu hören waren – auch sie würden heute nichts mehr bewirken.“

Kilian Kirchgeßner, Prag

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