"Mache mich unsichtbar": Wenn Eltern bei den erwachsenen Kindern wohnen müssen

Jeden Tag stehe sie gut gelaunt auf, sagt Ines El Sayed. "Und das will ich mir auch nicht nehmen lassen." Denn so sei sie nun mal: eine Optimistin, 54 Jahre alt, gelernte Einzelhandelskauffrau, alleinerziehende Mutter, eine Frau, die die Berge liebt, die Natur und München sowieso. "In diese Stadt habe ich mich sofort schockverliebt", sagt El Sayed und lacht.
Und dann steigen ihr ziemlich schnell die Tränen in die Augen. Denn Ines El Sayed ist wohnungslos.
In der Dachgeschosswohnung in Haidhausen, in der sie ihre Geschichte erzählt, ist sie nur ein Gast. Eigentlich sind diese 33 Quadratmeter das Zuhause ihrer Tochter, eine Architektin, Anfang 30.
Seit fast einem Jahr leben die beiden Frauen hier gemeinsam – in einem Zimmer mit Küchenzeile, schmalem Esstisch, zwei Stühle, ein Bett, 1,40 Meter breit. Darin schlafen Ines El Sayed und ihre Tochter gemeinsam.

Neben das Bett hat Ines El Sayed einen kleinen Fernseher gestellt. Ansonsten verrät fast nichts, dass sie hier ist. "Ich mache mich unsichtbar, damit ich meiner Tochter nicht im Weg stehe", sagt die 54-Jährige. "Ich bin davon überzeugt, dass uns unsere Kinder nichts schulden." Und trotzdem ist sie nun von ihrer Tochter abhängig.
Ihre Tochter sei ein wunderbarer Mensch, klug, kreativ, sie seien schon immer ein gutes Team gewesen, erzählt El Sayed. Doch neulich sei ihre Tochter ganz bedrückt nach Hause gekommen. Zuerst habe sie nicht erzählen wollen, was los ist. Dann sagte sie es doch: "Mama, ich würde so gerne mal wieder heimkommen und in meiner Wohnung alleine sein."
"Ich brauche dringend eine eigene Wohnung", sagt El Sayed. Nur ist das gar nicht so einfach. Und um zu verstehen, wie kompliziert es sein kann, muss man El Sayeds ganze Geschichte hören.
Ines El Sayed baute ein Tiny House
Sie habe fast 25 Jahre bei S. Oliver in Franken gearbeitet. "Ich habe meinen Job geliebt", sagt El Sayed. Doch als es dieser Firma wirtschaftlich nicht mehr so gut ging, musste sie feststellen, wie einseitig diese Liebe war: Obwohl sie neben ihrem 40-Stunden-Job auch ihre demenzkranke Mutter gepflegt habe, sollte sie in einen anderen Laden 100 Kilometer weit weg versetzt werden. Sie habe schließlich mit einem Anwalt für eine gute Abfindung kämpfen müssen. Erschöpfungsdepression, Reha und zum ersten Mal die Frage: Was will ich eigentlich selbst? Raus in die Natur, lautete ihre Antwort.
2020 baute El Sayed mit ihrer Tochter und Bekannten ein Tiny House, also ein winziges Haus, das bloß aus einem Raum bestand, mit Solar-Anlage auf dem Dach und einer Toilette, die man ausleeren musste. Das Tiny House stellte El Sayed auf das Grundstück einer Gärtnerei, für die sie zu arbeiten begann. Für ihren Chef sei es in Ordnung gewesen, dass sie ihr Tiny House auf sein Grundstück stellt. Doch dann gab er sein Geschäft auf und verkaufte alles.
Mit ihrem neuen Arbeitgeber sei plötzlich alles anders gewesen. Am Ende musste El Sayed ihr Tiny House verkaufen.
"Auf dem privaten Wohnungsmarkt habe ich keine Chance"
Im November 2024 zog sie bei ihrer Tochter ein. "Auf dem privaten Wohnungsmarkt in München habe ich keine Chance", sagt El Sayed. Doch um an eine Sozialwohnung zu kommen, muss das Amt für Wohnen und Migration der Stadt erst prüfen, ob man berechtigt ist. Sieben Monate habe sie auf den Bescheid gewartet. Das ist nicht unüblich: Laut Sozialreferat müssen die Antragssteller momentan im Schnitt sechs Monate warten – und erst dann kann man sich um eine Sozialwohnung bewerben.
Nachdem sie den Antrag für die Sozialwohnung eingereicht hatte, erfuhr El Sayed, dass sie auch für eine Wohnung des sogenannten "München Modell" infrage komme. Das sind Wohnungen, die etwas mehr kosten als die staatlich geförderten Sozialwohnungen und mit denen die Stadt Menschen mit mittleren Einkommen unterstützen will.
"Ich dachte, ich geh' ins Amt und hol mir dafür den Schein", sagt El Sayed. Am Telefon habe der Sachbearbeiter jedoch gesagt: Sie müsse die gleichen Unterlagen noch mal einreichen, noch mal mindestens fünf Monate auf die Bearbeitung warten. "Ich war so sauer, dass ich dem OB einen Brief geschrieben habe", sagt El Sayed. Nach nur fünf Wochen sei ihr Antrag fertig bearbeitet gewesen. Zufall?
Laut Pressestelle des Sozialreferats sind die Sachbearbeiter eigentlich immer angehalten, zu prüfen, ob ein Parallelantrag vorliegt. Wenn die Anträge allerdings nicht gleichzeitig gestellt werden, liege es im Ermessen des Sachbearbeiters, noch mal aktuelle Unterlagen anzufordern.
Ein Zimmer, aber fast 460 Bewerber
Eine Berechtigung zu haben, heißt aber noch lange nicht, dass man dann auch eine geförderte Wohnung bekommt. Für bestimmt 70 Wohnungen habe sie sich beworben, erzählt El Sayed.
Angebote für Sozialwohnungen stehen auf dem Online-Portal "Sowon" der Stadt. Dort sieht man auch, wie viele Bewerbungen eingehen: 456 für ein Zimmer in Laim, 123 für ein Zimmer in Feldmoching, 130 für ein Zimmer in Bogenhausen.
Laut der Stadt erhalten fünf Bewerber mit der höchsten Dringlichkeit das Angebot, die Wohnung zu besichtigen. Dann entscheiden die Vermieter, wer die Wohnung bekommt. El Sayed hat bis jetzt noch keine einzige Einladung für eine Besichtigung bekommen.
So viele warten in München auf eine Sozialwohnung
22.053 Haushalte in München sind derzeit für eine Sozialwohnung registriert und 14.712 Haushalte für eine München-Modell-Wohnung. Davon sind mit Sicherheit einige so wie Ines El Sayed doppelt registriert.
Wie lange diese Menschen im Schnitt warten müssen, ist laut Sozialreferat nicht so einfach zu beantworten. "Die Wartezeit ist in erster Linie abhängig von der Dringlichkeit, mit der ein Haushalt eine neue Wohnung benötigt. Bei einer sehr hohen Dringlichkeit kann es sein, dass der Haushalt innerhalb kürzester Zeit eine Wohnung bekommt, bei einer geringen Dringlichkeit vielleicht nie", schreibt die Pressestelle. Die Wartezeit sei auch davon abhängig, wie oft sich Haushalte um eine Wohnung bewerben - und auch davon, wen der Vermieter am Ende auswählt.
Klar ist aber: Für die über 22.000 Haushalte, die gerade auf eine günstige Wohnung warten, gibt es viel zu wenig Angebot. 2024 wurden nicht ganz 2300 Sozialwohnungen vergeben und etwa 200 München-Modell-Wohnungen. Der Rest muss weiter warten.
El Sayed will aber nicht tatenlos sein. Um ihre Chancen zu erhöhen, will sie sogar wieder ihren Mädchennamen "Hahn" annehmen. "Ich habe das Gefühl, der Name El Sayed tut gerade nichts Gutes für mich", meint sie.

Auf ihrem Esstisch liegt ein Buch von SPD-Alt-OB Hans-Jochen Vogel, in dem er ein Ende der Spekulation mit Grund fordert. Wenn sie durch München spaziere, fotografiere sie leer stehende Häuser. Sie schreibt auf, was das Rathaus tun könnte, um die Wohnungskrise zu lösen. Sie habe sich inzwischen an fast alle Parteien gewandt.
"Eine Frau bei den Grünen war ganz verwundert. Sie sagte zu mir: Sie sind wohnungslos? Sie sind doch so schön angezogen", erzählt El Sayed. Geärgert habe sie bei all diesen Begegnungen aber nur eine Frage: Haben Sie schon mal überlegt, woanders hinzuziehen? "Bin ich es etwa nicht wert, in München zu wohnen?", fragt sie. Die Antwort ist für El Sayed klar: Sie will bleiben.