„Wir wollten nicht Opfer bleiben“

Jossi und Irene Lipshic erlebten im Heiligen Land eines der spannendsten Kapitel der Zeitgeschichte. Jahre später übersiedelten sie nach Deutschland. Heute leben sie in zwei Welten.
Von Matthias Maus
Nein, sagt Jossi Lipshic und serviert türkischen Mokka: „eine Spielerei war das nicht“. Es klingt nach Abenteuer und Geländespiel. Aber wenn der Münchner von seiner Jugend erzählt, dann ist das Teil eines der spannendsten Kapitel der Zeitgeschichte: Der freundliche Herr mit dem Schnauzbart war dabei, heute vor sechzig Jahren: Bei der Gründung des Staates Israel.
„Ich war damals im Bootsclub“, erinnert sich Lipshic, „13 war ich, und wir sind mit Ruderbooten rausgefahren aufs offene Meer, drei Kilometer weit.“ Dort warteten die Schiffe aus Europa. Voller Einwanderer, voller Hoffnung auf ein neues Leben, drei Jahre nach dem Ende der Schoah, des Holocaust. „Wir haben sie an Bord genommen, bei Nacht und Nebel“, die Menschen, mit denen der Staat der Juden gegründet wurde. An den Scheinwerfern der Engländer vorbei wurden sie an Land geschmuggelt. Natürlich hörte der Teenager die Geschichten der Neuankömmlinge aus Europa, aus den KZ. Jossi sagt: „In so einer Situation, da wird man schnell reif.“ Die Geschichte von Irene, seiner Frau, die hörte er erst Jahre danach. Aber heute noch, 48 Jahre nach ihrer Hochzeit, inmitten der Antiquitäten im Laden im Gärtnerplatz-Viertel, ist die Beklemmung zu spüren, die das Paar so gerne überspielen würde: „1948, bei der Staatsgründung, da war ich neun“, erzählt die charmante Dame. „Ich fuhr in einem gepanzerten Bus nach Haifa. Denn da war ja schon Krieg.“ Schon wieder Krieg.
Irene Lipshic
Sie war ein Jahr alt, als die Nazis Polen überfielen. Ihr Vater stammt aus Oswiecim. Später wurde die Kleinstadt besser bekannt unter dem deutschen Namen: Auschwitz. „Wir wohnten in Krakau damals, und die Juden wurden von den Russen verschleppt, nach Sibirien.“ Das hat der Familie das Leben gerettet. Bis auf ihren Vater, der war auf Dienstreise, er fiel den Deutschen in die Hände, und er starb – am ersten Tag des Zweiten Weltkriegs. Nach dem Krieg ließen die Russen die Juden wieder ziehen: „Aber auch daheim in Polen gab es Antisemitismus, und meine Mutter wollte eine Zukunft für mich.“ Eine Organisation, die jüdische Waisenkinder nach Palästina verschiffte, brachte sie mit ihrer Tante ins gelobte Land. „Ich durfte nicht sagen, dass ich in Polen eine Mutter hatte“, sagt Irene. Acht war sie und honigblond.“ „Ich hatte lange Zöpfe“, und bei der Ankunft waren darin Mikrofilme versteckt. Was darauf war? „Ich hatte keine Ahnung.“ Jossi lächelt: „Wenn sie einen Juden erzählen lassen, bekommen sie einen Roman.“
Jossi Lipshic
Er ist in Jerusalem geboren, der Großvater war Zionist, er wanderte schon 1920 aus nach Palästina, er ahnte vielleicht, was kommen würde in Europa. „Was er aber nicht wusste, dass es Malaria gab in dem heißen Land, aber kein Wasser.“ Versuche, mit Landwirtschaft scheiterten,in Jerusalem hatte der Opa dann Erfolg mit einem Teehandel. „Er sprach perfekt arabisch, er hatte arabische Kunden“. Es war eine kurze Zeit friedlicher Koexistenz in der heiligen Stadt. Ärger gab es später, erst mit den Briten, dann bis heute, mit den Arabern.
Bei der Armee haben sie sich kennengelernt
Beide haben sie es erlebt, das Mädchen und der Jugendliche. Es gab nicht viel zu feiern, im Mai 1948, als David Ben Gurion den Staat Israel ausrief. Im November zuvor hatte die UN dem Teilungsplan für das ehemalige britische Protektorat zugestimmt. „Ich glaube, da war ich das erste Mal betrunken“, sagt Jossi. Aber noch in der Nacht hatten Jordanien, Libanon, Syrien und Saudi-Arabien dem neuen Staat den Krieg erklärt. „Ich stibitzte Tomaten und Gurken von arabischen Feldern. Lebensmittel für das eingekesselte Jerusalem.“ Die Armee wollte die Belagerung durchbrechen, die Lebensmittel reinbringen. Bei der Armee haben sie sich auch kennengelernt, Jahre später am Lagerfeuer: „6000 Männer waren da und zwölf Frauen“, sagt Jossi. „Und mich hat sie erwählt.“ Sie lachen beide glücklich. Er lernte Repro-Fotograf, aber in Israel gab es eine Rezession, 1967war das, und ein Vetter in der Schweiz versprach einen Job. „Ich fuhr hin, doch den Job bekam ich nicht, weil Israelis keine Arbeitserlaubnis bekamen. Also ging ich rüber.“ .“
Rüber, ins „Land der Täter“. Warum? „Wir hatten nie Vorurteile“, sagt er. Und Irene, die ein halbes Jahr später nachkam, betont jede Silbe: „Wenn man erstrebt, dass das Gute das Böse besiegt, dann muss man dem Guten weiterhelfen.“ Es gebe viele gute Menschen in Deutschland. Und nie sei sie mit ihrem Schicksal „hausieren gegangen“. Allerdings: „Nicht alle Freunde in Israel haben den Gang nach Deutschland verstanden.“ Auf Besuch seien sie mal fast aus dem Haus geflogen mit ihren Gastgeschenken aus Deutschland. Aber, sagt Irene: „Wir wollten nicht Opfer bleiben.“ In vier Firmen hat Jossi in München in seinem Beruf gearbeitet. „Sie gingen alle pleite.“
Mittlerweile sind die beiden eine Institution
Aus dem Nachlass des letzten Chefs baute er den Antiquitätenladen auf. Für Caroline Link lieferten sie Requisiten für „Nirgendwo in Afrika“, und die „Tatort“- Kommissare Nemec und Wachtveitl drehten auch schon in ihrem Laden. „Wir sind eine Institution mittlerweile.“ Und ja, selbst Araber gehörten zur Kundschaft: „Und den Mokka, den gibt es immer.“ Als was fühlen sie sich? Als Münchner? Als Israelis? „Es ist eine ganz tiefe Verbundenheit da“, sagt Jossi: „Alle Freunde sind immer am Flughafen, wenn ich nach Israel komme.“ Er spricht von Wärme, von Sehnsucht. „Aber nach einem Monat dort – habe ich wieder Sehnsucht nach München.“ Irene sagt: „Wir leben in zwei Welten.“
Die Mehrheit der Deutschen lehnen eine besondere Verantwortung gegenüber Israel ab. Beunruhigt sie das? Nein, sagt Jossi. Angst mache ihm, dass man die Nazi-Partei nicht verbieten kann: „Dass es darüber überhaupt eine Diskussion gibt“, das verstehen beide nicht. Aber Angst? „Man kann nicht immer Angst haben."