"Wir möchten ihn nicht unnötig quälen“: Münchens Tierretter im täglichen Ausnahmezustand

Notärzte gibt es in München nicht nur für Menschen, sondern auch für Tiere. Ob ein Hund Brechdurchfall hat, ein Taubenbaby sich einen Flügel gebrochen hat oder ein langjähriger tierischer Freund eingeschläfert werden muss: Die Tierretter sind Tag und Nacht in München im Einsatz.
von  Sophia Willibald
Mischling Sammy leidet an Durchfall und Erbrechen. Tierarzt Markus Lerner untersucht den Kleinen in der Wohnung seines Herrchens.
Mischling Sammy leidet an Durchfall und Erbrechen. Tierarzt Markus Lerner untersucht den Kleinen in der Wohnung seines Herrchens. © Sigi Müller

Wenn ein Mensch in Not gerät, ist klar, welche Nummer man wählt - 110 oder 112. Doch was ist, wenn ein Tier Hilfe braucht? Das fragte sich auch Evelyne Menges, die für die CSU im Stadtrat sitzt, als ihre Pudeldame Morle Anfang der 2000er Jahre nachts Blut spuckte. Später schrieb sie: "Damals erfuhr ich zum ersten Mal, wie einsam der Tierbesitzer sein kann, wenn seinem Tier etwas fehlt."

Danach war sie fest entschlossen, eine tiermedizinische Notfallambulanz für München zu organisieren. Sie konnte den Verein Aktion Tier zur Unterstützung gewinnen.

Seit 2001 steht ein Team aus Tierärzten und Assistenten 365 Tage im Jahr rund um die Uhr bereit, um Hunden, Katzen, Igeln, Tauben und Co. zu helfen und Tierbesitzern seelisch beizustehen. Die Tierretter sind telefonisch erreichbar unter: 01805 84 3773. Die AZ hat sie einen Tag lang begleitet.

Ein Taubenbaby bekommt Brei aus einer Spritze ohne Nadel.
Ein Taubenbaby bekommt Brei aus einer Spritze ohne Nadel. © Sigi Müller

7 Uhr: In Schwabing beginnt die Schicht von Tierarzt Markus Lerner 

Tierarzt Doktor Markus Lerner eilt zur Glastür und zieht sie mit einem Schwung auf: "Ich habe den Türöffner nicht gefunden, kommen Sie rein." Es ist erst sein achter Tag bei der Münchner Tierrettung in der Herzogstraße 127. "Ich bin noch ganz frisch", sagt der 52-Jährige.

18 Jahre hatte er eine Praxis in Trudering. Personalmangel und die vielen Überstunden bewegten ihn zur Umorientierung. Bei der Tiernotrettung hat er das Gefühl, direkt helfen zu können – und sagt: "Das empfinde ich als sehr sinnstiftend."

Er hat heute Frühdienst – zusammen mit der Studentin Natasa Pesits. Die 37-Jährige saust durch die Räume und packt die Utensilien für den Tag zusammen. Der erste Notfall steht an: Ein Hundebesitzer aus Laim hat angerufen, sein Havaneser-Mischling hat mit Durchfall zu kämpfen. "Gut, dann kann's losgehen", meint die Tierärztin in spe, greift nach dem roten Rettungsrucksack und hievt ihn hoch. Darin: Ampullen, Verbandsmaterial, Desinfektionsmittel und Kanülen.

Auf dem Weg zum ersten Notfall: Tiermedizinstudentin Natasa Pesits und Tierarzt Markus Lerner.
Auf dem Weg zum ersten Notfall: Tiermedizinstudentin Natasa Pesits und Tierarzt Markus Lerner. © Sigi Müller

Die beiden Tierhelfer spurten zum Rettungswagen, der 30 Meter vom Eingang entfernt auf dem Gehweg steht. Natasa Pesits verstaut den Rucksack und klettert auf den Fahrersitz, neben ihr Tierarzt Lerner. Dann startet sie den Motor.

8.20 Uhr: Das Tierretterteam trifft beim ersten Nofall-Patienten ein 

Eine halbe Stunde hat die Assistentin das Einsatzfahrzeug gekonnt durch die Münchner Straßen gelenkt. Derweil sind neue Notrufe eingegangen. Als sie den Wagen parkt, telefoniert Tierarzt Lerner gerade mit einer Frau, die ihre Katze vermisst. Er kann ihr mit dem Verweis auf eine zuständige Stelle helfen.

Um 8.20 Uhr betreten die Tierhelfer ein mehrstöckiges Wohnhaus. Im Treppenhaus werden sie bereits erwartet. Hund Sammy steht am Treppenabsatz und schaut den Besuchern neugierig entgegen. Sein Besitzer bittet sie herein und erzählt von den vergangenen Stunden: "Sammy hat gerade wieder gebrochen."

Natasa Pesits breitet eine blaue Abdeckung auf dem Sofa aus und hebt Sammy auf die Unterlage. Tierarzt Markus Lerner misst Fieber, hört mit konzentrierter Miene das Herz ab und sagt: "Er hat sich wahrscheinlich einen Magen-Darm-Virus eingefangen." Er will Sammy zwei Spritzen geben – eine gegen Übelkeit und eine gegen Bauchschmerzen.

Die Assistentin hat den wuscheligen Hund fest im Griff, als der Tierarzt ihn in den Oberschenkel sticht. Sammy jault und strampelt, doch er kommt nicht aus. Nach ein paar Sekunden ist alles vorbei. Verschreckt hüpft der kleine Mischling vom Sofa und verschwindet unter dem Esstisch.

Dem Besitzer wird Futter und ein Mittel für den Darmaufbau überreicht - oder wie Lerner mit einem Augenzwinkern sagt: "Sozusagen der Actimel-Joghurt für den Hund." Sammys Herrchen bezahlt die 308,66 Euro bar. So viel kosten die Anfahrt, die Behandlung und die Medikamente.

9 Uhr: Zurück in der Dienststelle warten wilde Tiere

Natasa Pesits setzt den Blinker: "Dann fahren wir jetzt zuerst heim, oder?" So sagt sie zu der Ambulanz in Schwabing. "Wir sind kein normaler Arbeitsplatz. Wir sind wie eine Familie", erzählt sie selig.

Noch ein Notfall: Dieser Igel ist von einem Jack Russell angefallen worden.
Noch ein Notfall: Dieser Igel ist von einem Jack Russell angefallen worden. © Sigi Müller

"Daheim" angekommen, sehen sie nach drei Tieren, die in der letzten Nacht abgegeben wurden. Die 37-Jährige hebt den ersten Karton aus dem Regal. Darin ist ein Igel, der von einem Jack Russell gebissen wurde. Markus Lerner nimmt ihn hoch und wendet ihn vorsichtig. "Hier ist das Problem, dass ich seine Wirbelsäule nicht abtasten kann." Da bekommt der Tierarzt die Stacheln auch schon zu spüren  – "Au!" Der Kleine ist ein Kandidat für das Tierheim, dort kann er ohne Verletzungsgefahr geröntgt werden.

Der kleine Igel blutet.
Der kleine Igel blutet. © Sigi Müller

In der nächsten Schachtel sitzt ein Taubenbaby, das aufgeregt fiept. Es wurde außerhalb des Nestes gefunden. Behutsam drückt die Assistentin den Schnabel auf und füttert es mit Getreidebrei.

Die letzte Patientin ist eine Ringeltaube. Der graue Vogel ist flugunfähig, flattert aber kräftig, als Markus Lerner die Flügel untersucht. Vorsichtig schiebt der Tierarzt die Federn beiseite, er entdeckt einen Bruch am Oberarmknochen.

Eine Ringeltaube braucht Hilfe, sie hat einen Knochenbruch.
Eine Ringeltaube braucht Hilfe, sie hat einen Knochenbruch. © Sigi Müller

10 Uhr: Auf zur Wildtierstation im Tierheim

Die Tierhelfer tragen die Boxen zum Rettungswagen. Alle drei kommen zur weiteren Behandlung ins Tierheim Riem. Auf dem Empfangstresen der Wildtierstation liegt eine Gummiente. Natasa Pesits folgt dem Hinweis: "Bitte zum Klingeln die Ente drücken!" Es quietscht und eine Mitarbeiterin des Tierheims kommt angelaufen. Mit geschultem Auge sieht sie sich die drei Tiere an und nimmt sie auf.

Zurück im Rettungswagen klingelt das Handy. Ein Hundebesitzer aus Sendling ist dran: "Unser Hund bricht immer wieder zusammen und frisst nicht mehr." Er und seine Frau hätten sich dazu entschieden, ihn einschläfern zu lassen. "Wir möchten ihn nicht unnötig quälen", erklingt seine bedrückte Stimme aus der Sprechanlage. Markus Lerner und Natasa Pesits machen sich auf den Weg.

Der schwarz-weiße Jagdhund leidet an Blasenkrebs. Tierarzt Lerner sagt später zur AZ: "Wegen eines Tumors in der Blase hatte der Hund ständig das Gefühl, Pipi zu müssen."

Das Paar hat sich entschieden, sich draußen im Garten von seinem Vierbeiner zu verabschieden. Dem Wunsch kommen die Tierhelfer gerne nach.

Zuerst spritzen sie dem kranken Hund eine Sedation zur Beruhigung. Danach folgt eine Überdosis Barbiturat. Nach einer Dreiviertelstunde ist alles vorbei und Markus Lerner und Natasa Pesits verabschieden sich von dem Paar. Sie haben noch einen weiteren schweren Termin vor sich.

12 Uhr: Eine Katze muss eingeschläfert werden

In der Isarvorstadt möchte eine Frau ihre Katze erlösen. Unter Tränen erzählt sie den Tierhelfern, dass die Katze unter Darmblutungen leide und ihr in der Tierklinik mitgeteilt worden wäre, dass es Zeit sei, sie gehen zu lassen. Und auch Tierarzt Markus Lerner meint später in einem ruhigen Moment: "Das war nicht zu früh. Die Katze war wegen eines Leberversagens schon komplett gelb."

Der Termin verläuft ähnlich friedlich wie bei dem Hund zuvor, doch das ist nicht immer so erzählt Natasa Pesits: "Manchmal sind die Besitzer so aufgebracht, dass sie uns gar nicht unsere Arbeit machen lassen."

Tierarzt Lerner untersucht die Flügel einer Ringeltaube. Assistentin Natasa Pesits checkt das Übergabeformular.
Tierarzt Lerner untersucht die Flügel einer Ringeltaube. Assistentin Natasa Pesits checkt das Übergabeformular. © Sigi Müller

Beide Einsatzfahrzeuge der Tierretter machen Probleme

Die 37-Jährige manövriert den Rettungswagen durch die engen Straßen der Isarvorstadt. Heute fährt der rote Mercedes-Transporter einwandfrei - zum Glück, denn die beiden Rettungswagen bereiten dem Team Sorgen. Natasa Pesits sagt seufzend: "Wir müssen ständig in die Werkstatt." Aktuell sammeln sie Spenden, um einen neuen Wagen kaufen zu können (siehe unten). Insgesamt wird der 100.000 Euro kosten, denn die Innenausstattung ist eine Maßanfertigung. Hinten im Laderaum befindet sich etwa ein Zwinger, der zugleich als Behandlungstisch dient.

14 Uhr: Ein Mauersegler und ein Amselbaby brauchen Hilfe

Die Türklingel schrillt durch die Räume der Dienststelle. Die angehende Veterinärin eilt zur Tür und kommt mit einer Schuhschachtel zurück. Darin ein Mauersegler. Eine Frau hat ihn an der Fahrbahn entdeckt. "Ich konnte ihn nicht einfach liegenlassen", sagt sie zu Tierarzt Markus Lerner, der ihr an der Tür versichert, das Richtige getan zu haben. Wildtiere behandelt die Tierrettung kostenlos. Wer also ein verletztes Tier abgibt, muss nichts bezahlen.

Die Verletzungen des Mauerseglers sind leider zu groß. Er hat eine offene Fraktur am linken Flügel und muss eingeschläfert werden.

Während das Tierarzt-Team an den PCs Schreibarbeit eerledigt, klingelt es wieder. Ein Taxifahrer hält eine Schachtel in der Hand: "Ich soll die hier bei Ihnen abgeben." Einer alten Dame war es nicht möglich, das Amselbaby, das sie außerhalb eines Nestes gefunden hat, selbst zu bringen. Da hat sie kurzerhand einen Taxifahrer damit beauftragt.

Das Amseljunge hat ein verdrehtes Bein. Pesits füttert ihm ein paar Mehlwürmer, das es mit weit offenem Schnabel hinunterschlingt. "Ein gutes Zeichen", meint Lerner. Er geht von einem ausgekugelten Gelenk aus. In der Vogelklinik in Oberschleißheim kann das wahrscheinlich behoben werden.

Um 15 Uhr verabschiedet sich Natasa Pesits von Markus Lerner und wirft einen Blick auf den Dienstplan. Nächste Woche sind sie wieder gemeinsam im Einsatz – quer durch die Stadt, um Münchens Tiere zu retten.

Damit sie auch künftig schnell helfen können, freuen sich die Tierretter über Spenden für ein neues Einsatzfahrzeug. IBAN: DE92 70020270 0044921804, Kennwort "Sprinter".

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