Wie lassen sich Unfall-Tragödien in München verhindern?

München - Wie lassen sich Unfallschwerpunkte erkennen und beheben, bevor Menschen zu Schaden kommen? Die AZ hat mit Rechtsmediziner Wolfram Hell und Martin Schreiner vom KVR gesprochen.

AZ: In München ist die Anzahl der getöteten Radler von vier (2017) auf sieben (2018) gestiegen, in Stockholm sinken die Zahlen. Was können wir von Schweden lernen?
WOLFRAM HELL: In Schweden hat man es sogar geschafft, dass 2018 kein einziges Kind auf dem Rad gestorben ist. Das ist natürlich ein unglaublich tolles Ergebnis. Zum einen werden in Schweden Unfälle anders analysiert. Und das Gesamtsystem ist so gestaltet, dass selbst, wenn Menschen Fehler machen, es nicht so schnell in einem tödlichen Unfall endet. In München habe ich mich als Unfallforscher mit dem Kreisverwaltungsreferat (KVR) zusammengesetzt und mir Gedanken darüber gemacht, wie wir aus den Katastrophen-Unfällen lernen und dann systematisch versuchen, die Stadt ein bisschen sicherer zu machen.

Waren die vielen schweren Abbiegeunfälle, etwa der am 20. Mai, bei dem ein elfjähriger Bub auf dem Heimweg von einem Lkw überrollt wurde, Auslöser für diese Zusammenarbeit?
MARTIN SCHREINER: Der Vorschlag für eine Modernisierung der Münchner Verkehrssicherheitsarbeit im Sinne der Vision Zero und für die externe Unterstützung durch Unfallforscher wie Wolfram Hell kommt aus dem KVR. Der Stadtrat hat mit einer Reihe von Anträgen und Aufträgen und vor allem mit der Bereitstellung der nötigen Ressourcen den Weg frei für die Umsetzung gemacht.

München: Neue Software soll Unfälle vermeiden
Schon 2018 wurden vom Stadtrat Trixi-Spiegel gegen Abbiege-Unfälle gefordert. Wann kommen die endlich?
HELL: Im November werden wir an einigen Schwerpunkt-Kreuzungen die ersten Trixi-Spiegel aufhängen.
Wo genau?
HELL: Darüber diskutieren wir derzeit noch. Denn die Frage, wie und wo wir die Spiegel aufhängen, ist kein so einfacher Prozess. Wir beziehen hier unter anderem auch noch Erkenntnisse aus anderen Kommunen, zum Beispiel Freiburg, mit ein.

Wie viel sicherer werden Münchens Straßen dann?
SCHREINER: Trixi-Spiegel leisten ihren Beitrag, sind aber nicht die ganze Lösung oder ein Allheilmittel. Wichtig ist die Erkenntnis, dass wir an vielen verschiedenen Stellschrauben drehen müssen, damit Münchens Straßen sicherer werden. Die Trixi-Spiegel sind da nur ein Beispiel, aber ein sehr greifbares.
Zurück in die schwedische Hauptstadt: Sie sprachen davon, dass Unfälle anders analysiert werden...
SCHREINER: ...in Stockholm arbeitet die Stadt mit einer Software, die vorab berechnen kann, wo etwas passieren könnte, wo Gefahrenschwerpunkte sein könnten. Dort arbeitet man eher präventiv. In München prüft die Unfallkommission nach schweren Unfällen, wie es zu dem Unglück kam. Wir bereiten gerade den Kauf einer vergleichbaren Software vor, so dass wir dann ganz gezielt analysieren können, wo in der Stadt es etwa für Radfahrer, für Fußgänger oder Senioren gefährlich wird. Ziel ist es, solche Stellen frühzeitig zu erkennen und zu entschärfen, bevor etwas passiert.
Wie werden die Daten erhoben?
SCHREINER: In München registriert die Polizei etwa 46.000 Unfälle im Jahr. Künftig würden all diese Unfälle über die Software in eine große Datenbank aufgenommen werden, die dann Gefahrenschwerpunkte in der Stadt berechnet.
HELL: Als Rechtsmediziner schauen wir uns fast ausschließlich die Katastrophenunfälle an. Also die, bei denen wirklich alles schiefgelaufen ist. Und erst im nächsten Schritt die mit Schwerstverletzten. Die Software schaut sich wiederum jeden Unfall an. Und verhindert so bestenfalls, dass weitere Menschen auf der Straße sterben müssen.
Also wird vor allem das Umfeld gesehen, in dem der Unfall passiert?
SCHREINER: Bei der Vision Zero geht man davon aus, dass jeder Fehler macht. Wir möchten, dass Fehler künftig nicht mehr so häufig in schweren Unfällen enden. Die ganze Infrastruktur muss toleranter für Fehler werden. Die Eigenverantwortung jedes Verkehrsteilnehmers bleibt aber natürlich zentral.
HELL: Genau. Früher stand vor allem die Sicherheit des Fahrzeuges im Mittelpunkt, dabei müssen wir aber auch die Unfallstruktur gesamt sehen. Und genau da sind wir gerade dabei, das zu tun. Wir müssen Unfälle aus verschiedenen Dimensionen betrachten. Dazu gehören die Ebenen Mensch, Fahrzeug und Umfeld.
Unfälle verhindern: Sind 30er-Zonen die Lösung?
Gibt es bei den schweren Unfällen ein bestimmtes Muster?
HELL: Definitiv. Viele dieser Unfälle gleichen sich hier wie ein Ei dem anderen. Dabei sind immer Themen wie Sichtbarkeit, Geschwindigkeit und Abstand Thema. Bei einem Unfall mit einem Auto, das Tempo 50 fährt, sterben zum Beispiel ein Großteil der Fußgänger, bei Tempo 30 überleben sie meistens. Deshalb gibt es in Österreich, der Schweiz und Schweden auch den Trend, dass da, wo Mischverkehr herrscht, die Geschwindigkeit gedrosselt wird.
Heißt das für München, dass bald überwiegend Tempo 30 innerhalb des Mittleren Rings gelten muss?
SCHREINER: Das ist ja schon heute so. Auf gut 90 Prozent des Münchner Straßennetzes gilt schon heute Tempo 30. Wenn unsere Analysen aber zeigen, dass es aus Sicherheitsgründen sinnvoll ist, bei weiteren Streckenabschnitten die Geschwindigkeit zu reduzieren, werden wir das vorschlagen. Es wird aber jeder Einzelfall geprüft. Für die Leistungsfähigkeit der Straßen hat das übrigens wenig Auswirkung. Die Durchschnittsgeschwindigkeit in München liegt sowieso bei ziemlich genau 30 Kilometern pro Stunde.
Für wie gefährlich halten Sie die E-Scooter für die Stadt?
Schreiner: Im KVR wollen wir uns zunächst einmal genau ansehen, wie sich das Ganze entwickelt. Fest steht schon jetzt: Es gibt relativ viele Alkoholfahrten und dadurch auch recht typische Unfallmuster.
HELL: In Skandinavien und Frankreich gibt es jetzt allerdings auch die ersten tödlichen Unfälle mit E-Scootern, die wir uns natürlich ganz genau anschauen. Da sind entweder Autos oder Lastwagen involviert, oder es gab einen schweren Aufprall des Kopfes.
Die meisten E-Scooter-Fahrer sind auch in München ohne Helm unterwegs.
HELL: Ja, hier wäre eine höhere Helmtragequote wünschenswert. Zum Vergleich: In Schweden, wo es einfach insgesamt eine Sicherheitskultur gibt, tragen bis zu 70 Prozent der Radfahrer freiwillig einen Helm, in Deutschland nur 13.
Und in München?
HELL: Da liegen wir mit 25 Prozent deutschlandweit zwar an der Spitze, trotzdem müssen wir eher die 70 Prozent anstreben.
SCHREINER: Aber noch mal zu den E-Scootern. Im Vergleich zu den Radfahrern sind die in München schon noch ein Randthema. Für die schweren Unfälle sorgt nach wie vor der massenhafte Auto- und Lastwagenverkehr in der Stadt. Allein in den 30er-Zonen messen wir rund 90.000 Geschwindigkeitsüberschreitungen pro Jahr. Und das sind nur Stichproben.
OB Dieter Reiter fordert in einem Schreiben an den Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer, dass Abbiegeassistenten für Lkw Pflicht werden müssen. Sind die denn – im Vergleich zu den Trixi-Spiegeln – die Allheillösung?
SCHREINER: Abbiegeassistenten sind sehr wichtig. Hier sind wir als Stadt übrigens Vorreiter: 90 Prozent aller städtischen Lkw sind bereits mit einem Kamerasystem ausgestattet. Seit kurzem fordern wir – wenn irgendwie möglich – auch von städtischen Auftragnehmern, dass ihre Lkw mit Abbiegeassistenten ausgestattet sind. Es tut sich wirklich etwas. Doch bis man das auch in der Masse zu spüren bekommt, wird das noch ein wenig dauern.
Sicherheit für Radler: Die Fraunhoferstraße als Vorreiter?
Die Autofahrer haben Veränderungen an der Fraunhoferstraße zu spüren bekommen. Hier mussten über 100 Parkplätze für einen Radweg weichen. Bringt der mehr Sicherheit?
SCHREINER: Wir glauben schon, dass es hier eine deutliche Verbesserung geben wird. Plötzlich aufgehende Autotüren fallen als Risiko weg. Und auch, dass man auf die Straßenbahnschiene ausweichen muss, ist mit einem Radweg unwahrscheinlicher.

Auch in München hat der Stadtrat sich die Vision Zero als Ziel gesetzt. Für wie realistisch halten Sie null Verkehrstote in München?
HELL: Die Vision Zero ist mehr als eine Philosophie zu verstehen. Die Schweden sind auch noch nicht auf Null, zählen noch 250 Verkehrstote bei 8,5 Millionen Einwohnern. Aber was wir sehr wohl in München schaffen können, ist, systematisch schwere Probleme zu erkennen und zu beheben – und die Stadt dadurch deutlich sicherer zu machen. Wenn wir das schaffen, dann hat sich die Arbeit schon mehr als gelohnt. Für mich als Experte ist die Zusammenarbeit mit dem KVR besonders spannend. Ich kann mein Fachwissen einbringen, für meine eigene Stadt etwas so wichtiges tun.
SCHREINER: Man kann eine über Jahrzehnte gewachsene autogerechte Struktur nicht in einem Jahr umbauen. Mein ganz persönliches Ziel: Ich gehe in 15 Jahren in den Ruhestand, dann haben wir die Unfallzahlen halbiert.