"Wie lange kann ich hier bleiben?": So geht es jungen jüdischen Menschen in München

Was bedeutet es heute, jüdisch und jung in München zu sein? Die Antworten sind komplex – und oft erschütternd, wie eine Studie zeigt.
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Im vergangenen September schoss ein junger Österreicher auf das israelische Generalkonsulat in München. Nach Ansicht der Ermittler war der Anschlag israelfeindlich motiviert.
Im vergangenen September schoss ein junger Österreicher auf das israelische Generalkonsulat in München. Nach Ansicht der Ermittler war der Anschlag israelfeindlich motiviert. © Matthias Balk/dpa

München - München gilt als weltoffen, als Stadt des Erinnerns. Doch für viele junge jüdische Menschen ist sie vor allem eine Stadt der Unsicherheit geworden. Eine neue Studie zeigt, wie alltagsprägend Antisemitismus heute wieder ist – und wie tiefgreifend der 7. Oktober 2023 ihre Lebensrealitäten verändert hat.

Studie zu Antisemitismus in München vorgestellt

Unter dem Titel "Zwischen Verstecken und Flagge zeigen" wurden 35 Menschen im Alter zwischen 18 und 35 Jahren von einem Forschungsteam der Frankfurt University of Applied Sciences unter der Leitung von Julia Bernstein befragt. Im Zentrum stehen die Erfahrungen mit Antisemitismus vor und nach dem Angriff der Hamas auf Israel – und ihr Umgang mit einem gesellschaftlichen Klima, das viele von ihnen als zunehmend feindselig empfinden. Die Fachstelle für Demokratie hat die Studie in Auftrag gegeben – die Ergebnisse wurden am Montag im Neuen Rathaus vorgestellt.

Auch die Holocaustüberlebende Charlotte Knobloch (2. von rechts) ist bei der Vorstellung der Studie dabei. Anwesend waren auch: Jessica Flaster, Vorsitzende des Verbandes Jüdischer Studenten in Bayern (v.l.), Leiterin der Studie Julia Bernstein, Miriam Heigl, Leiterin der Fachstelle für Demokratie, und Bürgermeister Dominik Krause (Grüne).
Auch die Holocaustüberlebende Charlotte Knobloch (2. von rechts) ist bei der Vorstellung der Studie dabei. Anwesend waren auch: Jessica Flaster, Vorsitzende des Verbandes Jüdischer Studenten in Bayern (v.l.), Leiterin der Studie Julia Bernstein, Miriam Heigl, Leiterin der Fachstelle für Demokratie, und Bürgermeister Dominik Krause (Grüne). © Daniel Loeper

7. Oktober 2023 markiert Zäsur

Die Ergebnisse der Studie zeichnen ein vielschichtiges, oft bedrückendes Bild. Antisemitismus gehört für viele der Befragten zum Alltag – nicht nur in Form direkter Anfeindungen, sondern auch als subtile Ausgrenzung oder Schweigen in sozialen und beruflichen Kontexten.

Der 7. Oktober 2023, der Terrorangriff der Hamas auf Israel, markiert dabei eine Zäsur: "Viele Interviewte berichten von einem tiefen Bruch, der ihr Vertrauen in die Gesellschaft erschüttert hat – das Sicherheitsgefühl ist verschwunden, die Sichtbarkeit der eigenen Identität wird zum Risiko", so die Soziologin Bernstein. Eine befragte Person sagt, es gäbe seit dem 7. Oktober ein „Davor“ und ein „Danach“.  Die Reaktionen auf diese Zäsur reichten von "Rückzug und Angst bis zu Wut, Resilienz und einem gestärkten jüdischen Selbstverständnis", so Bernstein.

Junge jüdische Menschen haben mit Drohungen im Alltag zu kämpfen

Für viele Befragte seien die oft verharmlosenden Reaktionen des eigenen Umfelds belastend. "Oh, hast du das gesehen, was da passiert ist? Ganz, ganz schlimm, aber ..." So schildert ein Befragter eine Unterhaltung aus seinem Umfeld. "Dieses Aber war schon am ersten Tag da", sagt er. Es war sein erster Arbeitstag nach dem Angriff.

Die Befragten erzählen, dass sie immer wieder mit verharmlosenden Bemerkungen, Relativierungen und teilweise sogar mit Angriffen zu kämpfen hatten. Eine Betroffene erzählt von Online-Drohungen, dass man "sie finden" würde. Kurz darauf erhielt sie eine Nachricht mit dem Foto ihrer Arbeitsstelle und weitere Drohungen.

Antisemitismus an Schulen und Universitäten

Eine weitere Person berichtet von Beleidigungen auf Instagram als "Kindermörder" oder "Teufel". Auch am Arbeitsplatz trafen die Interviewten auf judenfeindliche Haltungen. In einem Aufzug stand das Wort "Jude". Es war durchgestrichen.

Betroffene berichten von antisemitischen Stickern an der Universität oder Schmierereien auf Schulbänken mit dem Spruch "Juden sind Schweine". "Es kann nicht sein, dass du aus Israel bist, wir hassen Israel", sagt eine Kommilitonin zu einer jüdischen Studentin.

2024 gab es 1515 antisemitische Vorfälle in Bayern

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) Bayern dokumentiert in ihrem Jahresbericht für 2024 im Freistaat 1515 antisemitische Vorfälle. Das sind fast doppelt so viele wie 2023 – da waren es 761. Dabei habe es sich in 80 Prozent aller Fälle um israelbezogenen Antisemitismus gehandelt.

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"Kann ich hier bleiben und wie lange noch?"

In nahezu allen Interviews der Studie wird eine tiefe Verunsicherung im Hinblick auf die Zukunft deutlich. Keiner der befragten Münchner könne sich eine sorglose Zukunft vorstellen, in der jüdische Identität offen gelebt werden kann. Für viele stellt sich die Frage: "Kann ich hier bleiben und wie lange noch so?"

Die Studie zeigt auch: Antisemitismus passiert nicht nur bei großen Vorfällen, sondern auch in den kleinen, alltäglichen Momenten – durch Worte, Verhalten oder das vage Gefühl, nicht dazuzugehören.

Das wünschen sich jüdische Menschen in München

Als Lichtblick wird von vielen Befragten die öffentliche Solidaritätsbekundung der Stadt München wahrgenommen. Trotzdem bleibe der Wunsch nach tiefergreifenden Maßnahmen bestehen. "Was die Befragten sich wünschen, ist klar: mehr Empathie, ein fundierteres gesellschaftliches Verständnis für Antisemitismus in seinen vielfältigen Formen – besonders in Bezug auf Israel – sowie sichtbare und glaubwürdige Solidarität bei konkreten Vorfällen", sagt Julia Bernstein.

Zweiter Bürgermeister Dominik Krause (Grüne) ergänzt: "Die Stadt München fühlt sich der Sichtbarkeit und Sicherheit jüdischen Lebens in besonderem Maße verpflichtet. Wir werden Antisemitismus – egal, in welcher Form er auftritt – auch weiterhin geschlossen und entschieden entgegentreten."

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