Wenn München seine Kinder schützen muss

In einem Jahr sind 335 Minderjährige vom Jugendamt in Obhut genommen worden. In mehr als jedem zweiten Fall meldet sich das Kind selbst bei den Behörden.
von  Julia Lenders

München - Es ist eine Zahl, die aufschreckt. Eine Zahl die nachdenklich macht. Innerhalb eines Jahres sind 335 Kinder und Jugendliche vom Münchner Jugendamt in Obhut genommen worden. Das geht aus dem jetzt veröffentlichten Kinder- und Jugendhilfereport 2010 hervor.

In den beiden Jahren zuvor sind je 286 Fälle registriert worden – und damit deutlich weniger. Eine Zunahme um 17 Prozent. Die Zahl aus dem vorigen Jahr war gestern noch nicht zu erfahren.
Welche Informationen werden über die Betroffenen weitergegeben? Der Großteil, nämlich 58 Prozent der Jugendlichen, die in Schutzstellen einquartiert werden, ist 14 Jahre und älter. Etwa ein Viertel ist zwischen 7 und 13 Jahre alt, der Rest jünger.

Mehr als die Hälfte aller 335 Betroffenen haben sich selbst Hilfe suchend an die zuständigen Stellen gewandt. Ihr Anteil war schon immer hoch, ist zuletzt aber weiter gestiegen. „Wir haben jetzt auch schon 13-jährige und 12-jährige Selbstmelder“, sagt Jugendamts-Leiterin Maria Kurz-Adam. Viele Kinder werden aber auch von der Polizei aus ihren Familien geholt.

Ausgestoßene Kinder gibt’s auch in Oberschichtsfamilien

Wie lange sie in Schutzstellen bleiben, ist unterschiedlich. Manchmal dauert das Ganze auch bloß 24 Stunden. Für etwa die Hälfte aller Fälle gilt jedoch: Sie kehren nach der Inobhutnahme nicht in ihre Familien zurück, sondern kommen dauerhaft in einem Heim, einer Pflegefamilie oder einer Wohngruppe unter.

Was ist in den betroffenen Familien los? Wie kommt es zu solchen Eskalationen. „Das sind natürlich keine alltäglichen Streits übers Ausgehen, sondern schwere, schwere Konflikte“, sagt Kurz-Adam. Auch sei das Ganze nicht bloß ein Problem bildungsferner, ärmerer Schichten. „Es kann auch eine Oberschichtfamilie angehen, die ganz traditionelle Wertevorstellung hat und ihr Kind wirklich ausstößt aus dem System.“

Als kurzen Beispielfall schildert Kurz-Adam die Lage eines türkischen Mädchens. Eine Jugendliche, die in einen heftigen Konflikt gerät, weil ihren traditionellen Eltern ein anderer Lebensweg für sie vorschwebt als ihr selbst.

Eine Familie könne solche Probleme eventuell lösen, wenn sie zur Beratung gehe. Hilfreich sei auch, wenn das Mädchen mal bei Freunden unterkommen könne. „Oder es gibt nirgendwo einen Ort, wo ein 14- oder 15-jähriges Mädchen diesem Konflikt entrinnen kann – und dann gehen sie in eine Inobhutnahmestelle“, sagt die Jugendamts-Chefin.

Und wenn ein Kind sich nicht selbst meldet? Wie viele Menschen entscheiden darüber, wann der Zeitpunkt gekommen ist, es aus seiner Familie herauszuholen?

Es gelte immer das Vier-Augen-Prinzip, heißt es. „Aber es ist nicht immer eine Team-Entscheidung, weil es oft akute Situationen sind“, erklärt Kurz-Adam.

Wenn etwa eine Kindergärtnerin im Sozialbürgerhaus melde, dass das Kind am Morgen mit schwersten blauen Flecken und Verletzungen gekommen sei. Und das Kind auch noch berichte, dass es schwer verprügelt worden ist. Das komme durchaus vor.
„Dann haben Sie keine Zeit für große Teamentscheidungen. Dann haben sie erst einmal die Kinderrechte auf Schutz und Sicherheit zu wahren.“

Was das Jugendamt zunehmend vor Probleme stellt: Die Zahl der Schutzstellen ist begrenzt. Derzeit gibt es rund 250 Inobhutnahme-Plätze. Die Heimaufsicht muss teilweise bereits um die Genehmigung für eine Überbelegung gebeten werden.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge stark angestiegen ist (siehe unten). Im Oktober 2009 waren es noch 525. Genau zwei Jahre später, also im Oktober 2011, waren es schon 890. Diese Jugendlichen sollen eigentlich im selben Schutzsystem unterkommen. Doch der Ansturm ist derzeit nicht zu bewältigen.

Die Kosten für „Inobhutnahmen“ sind spunghaft angestiegen

Es entstehen immer wieder Engpässe. Nicht selten müssen Kinder und Jugendliche aufgrund fehlender Kapazitäten auch außerhalb Münchens untergebracht werden. Dem sprechen aber oft fachliche Gründe entgegen, die Hilfeplanung wird schwerer.

Auch ohne Berücksichtigung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge gilt: Die Kosten für die Inobhutnahme sind stark gestiegen. Der aktuelle Kinder- und Jugendhilfereport weist mehr als eine Million Euro dafür aus. Ein sprunghafter Anstieg im Vergleich zum Vorjahr (2009: 731.000 Euro).

Das liegt, so die Auskunft des Jugendamts aber nicht nur an den gestiegenen Fallzahlen. Auch die Einrichtungen seien deutlich teuer geworden, weil die sich zunehmend spezialisierten. Auf Mädchen, Buben oder Misshandlungs-Opfer.

 

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