Vernebeltes Verfahren: Skurriler Cannabis-Prozess in München
München - Noch bevor die Urteilsbegründung verlesen wird, steht Helge S. auf, holt seine Mutter aus dem Zuschauerraum und verlässt den Gerichtssaal. "Ich habe keinen Bock mehr", sagt er dem Richter, als der ihn ermahnt doch bitte sitzenzubleiben. Es ist das Ende eines anstrengenden und skurrilen Prozesses.
Vor etwas mehr als einem Jahr stand S. schon einmal vor Gericht. Die AZ berichtete damals unter der Überschrift "Weil er Cannabis anbaut, droht seiner Mutter das Heim". Am 15. Mai hatten Polizisten die demente Mutter von S. alleine an einer Bushaltestelle gefunden. Sie hatten festgestellt, dass die Dame an Demenz leidet und sie nach Hause gefahren. Sie war aus der abgeschlossenen Wohnung weggelaufen, als S. gerade schlief. "Wir haben in der Wohnung Marihuana-Geruch wahrgenommen", sagte der Polizist damals als Zeuge vor Gericht.
2020 zeigten Richter und Staatsanwalt noch Verständnis
In Helge S. Wohnung hatten die Beamten dann Hanfpflanzen sichergestellt, er wurde angeklagt. Vor Gericht legte er damals dar, dass er Cannabis benötige, um seine Mutter zu pflegen und psychologische Probleme in den Griff zu bekommen. Obwohl Richter und Staatsanwalt Verständnis zeigten, wurde S. im August 2020 zu einer Geldstrafe verurteilt.
Schon damals hatte er angekündigt, in Berufung zu gehen. "Ich lasse mir mein Wohlbefinden nicht bestrafen, das ist doch Wahnsinn", sagte er aufgebracht und versprach, sich bei der AZ zu melden, wenn das nächste Urteil anstünde. Am Donnerstag war es so weit: Helge S. war wieder vor Gericht, doch diesmal war einiges anders.
Vor dem Strafjustizzentrum in der Nymphenburger Straße hat S. eine Bühne aufgebaut. Von hier aus will er in den Gerichtssaal gehen und später für seine Unterstützer eine Rede halten. Er hofft auf Freispruch. Auf der Bühne spielt Musik, die Stimmung ist gut.
Telegram-Posse um AZ-Reporter
Plötzlich kommt eine Frau auf S. und den AZ-Reporter zu, fragt freundlich, ob sie ein Foto machen darf. Nur ein paar Minuten später, stellt sie das Bild auf ihren "Telegram"-Kanal. "AZ-Reporter Paul Nöllke, er ist auf unserer Seite", schreibt sie dazu. Sie bestreitet, die Coronapandemie. Man ahnt, hier geht es nicht mehr nur um die Cannabislegalisierung. Wo damals im Gericht eine Aktivistin für Legalisierung mitgekommen war, sitzt nun der bekannte Corona-Leugner Karl Hilz im Zuschauerraum.
Helge S., der seine Mutter mit in den Saal genommen hat und sich dort liebevoll um sie kümmert, erzählt noch mal seine Geschichte. Wie er, ein einst sehr erfolgreicher Event-Manager, sich plötzlich um seine Mutter kümmern musste, als sie Demenz bekam. Wie er seinen Job aufgeben musste, und in ihre Wohnung zog. Wie er dort Cannabis für den Eigengebrauch züchtet, um seine Probleme in den Griff zu bekommen. Wie es ihm seitdem viel besser ginge und er sich sogar vergeblich um legales medizinisches Cannabis bemüht habe. Doch manchmal schweift er ab. Dann sagt er, dass er sich in Deutschland politisch an "dunkelste Zeiten" erinnert fühle, dass er "Antifaschist" sei, aber "ein richtiger, nicht einer von den falschen". Später sagt seine demente Mutter aus, es geht ihr besser als im Jahr zuvor. Sie weiß zwar nicht, wer gerade Bundeskanzler ist, aber dass ihr Sohn sich gut um sie kümmere und viel fröhlicher sei, wenn er "seine speziellen Zigaretten" geraucht hat, bezeugt sie.
Am Ende haben weder Richter noch Staatsanwaltschaft ein Einsehen. Cannabis sei illegal und in einem Rechtsstaat müsse man die Gesetze befolgen, so die Staatsanwältin. Der Richter bleibt ruhig, als S. ihm vorwirft, sich nicht auszukennen und S. sich kurz im Prozess Kopfhörer aufsetzt, weil er vom Vorgetragenen wütend würde. S. wird zu einer höheren Geldstrafe verurteilt, als im Jahr zuvor, da er kein Einsehen habe.
Wer das Gericht verlässt, hört S. hier zu seinen Unterstützern sprechen. Ob es um Corona oder Cannabis geht, ist nicht klar.