Überschuldungsproblem in München: "Vor dem Einkauf habe ich Angst"

Überschuldung ist für immer mehr Münchner ein Riesen-Problem. Die Zahl der Hilfesuchenden hat sich verdoppelt. Wie die Stadt jetzt reagiert - und was ein Betroffener erzählt.
von  Christina Hertel
Die Schulden sind Günther und Seher Deger zwar los, trotzdem müssen sie jeden Cent umdrehen.
Die Schulden sind Günther und Seher Deger zwar los, trotzdem müssen sie jeden Cent umdrehen. © Sigi Müller

München - Manchmal, sagt Günther Deger, 74 Jahre alt, wünschte er, er würde nicht in München, sondern in einem Dorf in Niederbayern leben. Weil dort die Menschen noch zusammenhalten, sagt er. Weil er immer noch von den Schmalznudeln träumt, die er dort im Urlaub aß. Vor allem aber, weil dort das Leben so viel günstiger sei als hier.

Jeder zehnte Münchner ist überschuldet

Etwa sechs Jahre ist her, dass Deger um die 30.000 Euro Schulden hatte, nicht wusste, wie er die Telefonrechnung bezahlen und den Schufa-Eintrag wieder loswerden sollte. Seine Geschichte erzählt er jetzt, weil es immer mehr Menschen in München so geht wie ihm damals: Knapp jeder zehnte Münchner ist überschuldet, so geht es aus Unterlagen des Sozialreferats vor. Insgesamt sind das 134.000 Menschen, 26.000 mehr als der Schuldneratlas 2020 auswies.

Immer mehr Münchner suchen Hilfe bei Schuldenberatung

Schuld daran ist Corona: 37 Prozent der Haushalte in München sind von Einbußen betroffen, wurden in Kurzarbeit geschickt oder verloren ihren Job. Jeder Vierte befürchtet deshalb, Verbindlichkeiten nicht zahlen zu können. Wie immer mehr Menschen kämpfen, sich München noch leisten zu können, bekommen vor allem die Schuldnerberater mit: Während 2019 noch 5.160 Menschen telefonisch bei ihnen Rat suchten, waren es 2020, im ersten Jahr der Pandemie, 9.298. Für 2021 rechnet das Sozialreferat mit einem weiteren Anstieg: 11.000 Personen werden demnach Ende des Jahres bei einer Schuldnerberatung angerufen haben. Der Stadtrat will deshalb am Donnerstag beschließen, das Personal um drei Stellen aufzustocken.

So kam Günther Deger wieder aus der Schuldenfalle heraus

Auch Günther Deger und seine Frau Seher bekamen Hilfe: von Melina Welscher, die als Insolvenzberaterin für das H-Team arbeitet. "Eine engagierte Frau", sagt Günther Deger. "Und vor allem eine ehrliche."

Deger sitzt auf seiner Eckbank, trinkt Kaffee aus einer geblümten Porzellantasse. Früher, als er als Hausmeister arbeitete, habe er nie Schulden gehabt, sagt er. Doch dann übernahm er für 12.000 Euro einen Imbisswagen in Dachau. Auf einen Block malt ihn Deger auf: Fünf kleine Tische, eine Theke, einen Grill, einen großen Kühlschrank. Es gab Schnitzel, Döner, Pommes, gebratenen Fisch, Fleischspieße. Den Gästen schmeckte es, sagt Deger. Trotzdem reichte es nicht: Alleine die Pacht für den Parkplatz in Dachau, wo der Imbiss stand, habe 1.100 Euro im Monat gekostet. Hinzu kamen Versicherungen, Gas, Kosten für die Fettentsorgung, die Reinigung der Dixiklos.

Nach nur einem Jahr sei er 30.000 Euro im Minus gewesen. Mindestens vier Jahre habe es gedauert, die Schulden loszuwerden. Ohne Hilfe der Schuldnerberatung hätte er das vielleicht nie geschafft. Welscher habe die Unterlagen sortiert und dem Ehepaar geholfen, so viel wie möglich zu Geld zu machen: den Schmuck, die Münzen, die Goldbarren. Sie habe mit der Bank und mit seinem Telefonanbieter korrespondiert. "Das war ein Gewaltakt", sagt Deger.

Gerade haben Melina Welscher und ihr Team so viel zu tun wie nie. Die Wartezeit für ein erstes Gespräch liege bei drei Monaten, sagt Welscher.

Das sei viel zu lange: Schließlich drohe bei einigen Klienten der Vermieter damit, die Wohnung zu kündigen oder der Stromanbieter damit, alles abzuschalten. Zwar bewilligte die Stadt der Beratungsstelle bereits Ende 2020 etwas mehr als eine weitere Stelle - allerdings nur auf zwei Jahre befristet. Doch alleine das Einarbeiten dauere mindestens ein Jahr, sagt Welscher. Schließlich müssten sich die Berater mit komplexen juristischen Fragen befassen.

"Vor dem Einkaufen habe ich immer Angst"

Wenn er daran denke, wie sehr die Preise gerade steigen, bekomme er Magenschmerzen, sagt Deger. Obwohl ihm der Verein "Ein Herz für Rentner" regelmäßig eine Gemüsekiste schickt und das MVV-Ticket zahlt, kommt er nur, wenn er Glück hat, am Ende des Monats auf Null. Denn alleine Miete und Versicherungen fressen einen Großteil der 1.600 Euro Rente auf, die das Paar zusammen bekommt.

"Vor dem Einkaufen habe ich immer Angst. Ich schaue immer im Internet nach Angeboten", sagt Seher Deger. Die 78-Jährige kam als Gastarbeiterin aus der Türkei nach München. Ihre Heimat habe sie schon seit 15 Jahren nicht mehr besucht. "Das tut weh", sagt sie. Zwar würden Verwandte sie einladen, "aber als Gast will man doch was mitbringen", sagt Günther Deger. "Und das soll doch kein Plunder sein."


Mehr Infos zu "Ein Herz für Rentner" unter www.ein-herz-fuer-rentner.de

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