Traumstadt ohne Herz

Das Olympiadorf ist eine soziale Utopie der 60er Jahre: Nach jahrzehntelangem Streit um die Sanierung ist der Beton nun nahezu überall repariert – doch jetzt gibt es neue Probleme: Das Dorf überaltert, die Ladenstraße verkümmert.
von  Abendzeitung
Die fröhlichen 70er Jahre, ein Spielplatz im Olympiadorf: Die Siedlung ist nach ersten Imageproblemen ein Magnet für Familien mit Kindern geworden.
Die fröhlichen 70er Jahre, ein Spielplatz im Olympiadorf: Die Siedlung ist nach ersten Imageproblemen ein Magnet für Familien mit Kindern geworden. © az

Das Olympiadorf ist eine soziale Utopie der 60er Jahre: Nach jahrzehntelangem Streit um die Sanierung ist der Beton nun nahezu überall repariert – doch jetzt gibt es neue Probleme: Das Dorf überaltert, die Ladenstraße verkümmert.

Von Michael Grill

Was wurde nicht schon ums Olympische Dorf gestritten in München. Jetzt steht die Sanierung vor dem Abschluss, schon werden andere Probleme offenkundig: Die Siedlung beginnt zu überaltern und die Ladenstraße kommt mehr und mehr herunter. Das alles hat tiefer gehende Ursachen – denn das Dorf aus Beton ist nur aus seiner Geschichte heraus zu verstehen.

Unverstandene Utopie

Ganz am Anfang war’s eine unverstandene Utopie von Planern, die die seelenlose, anonymisierende Moderne der Trabantenstädte mit einer Siedlung neuer Art überwinden wollten. Dann stand die grüne, soziale, kleinteilige Wohn-Vision im nördlichen Olympiapark als Athleten-Unterkunft erst mal im Schatten der großen Olympiabauten mit dem berühmten Zeltdach.

Nach den Spielen von 1972 sollte alles verkauft werden – und das Geschrei war groß, als jahrelange Leerstände offenbarten, dass Immobilienkäufer sich ungern auf Architektur-Utopien einlassen: „Geisterstadt!“, schlagzeilte es durch die frühen 70er Jahre. Und als dann plötzlich alle merkten, wie lebenswert die neue Siedlung war, als die Wohnungen immer begehrter, die Dorfbewohner immer stolzer auf ihre autofreien, kinderfreundlichen Fußwege, ihre funktionierenden Nachbarschaften und hellen Wohnungen inmitten eines grünen Parks wurden – da begann der Beton zu bröckeln.

Das Dorf war schlau geplant, aber schlampig gebaut worden, Wasser drang in die Konstruktion über den unterirdischen Fahrstraßen ein und ließ die ganze Sache korrodieren: „Das war wirklich gefährlich“, sagt Ludger Korintenberg, seit den 70ern Dorf-Bewohner und Mitglied im Vorstand der Einwohner-Gemeinschaft. Fast 20 Jahre stritt man um die Sanierungskosten, es ging bis vors Bundesverwaltungsgericht. Warum? Wieder wegen der Utopie: Wer trägt die Verantwortung (und die Reparaturkosten) für öffentliche Wege, die aber keine Fahrstraßen sind?

Kompromiss

Nach zermürbenden Juristendebatten fand sich ein Kompromiss: Die Stadt trägt nun rund ein Viertel der Kosten. Die drei Hauptwege (Connolly-, Nadi-, Straßbergerstraße) sind schon fertig, das große Forum1 wurde es gerade, der Kirchenvorplatz ist in Arbeit – dann ist auch dieses mühsame Kapitel fürs Dorf erledigt. „Vieles schaut sogar schöner aus als 1975“, freut sich Constanze Lindner-Schädlich, langjährige SPD-Stadträtin, die just in jenem Jahr ins Dorf gezogen ist.

So könnte also das Olympiadorf endlich zur Ruhe kommen und still und heimlich seinen Traum von der futuristisch-modernen Siedlung mit vormodern-dörflichem Sozialleben träumen.

Doch nun kracht und ächzt die Utopie an anderen Stellen. Durch den Immobilienverkauf nach den Spielen leben im Olympiadorf besonders viele Wohnungseigentümer. Die meisten zogen in den 70ern mit ihren Kindern dorthin, um der Familie eine autofreie Umwelt zu bieten. Nun sind die Kinder längst aus dem Haus und die Eltern von einst belegen als Senioren von heute die Wohnungen: „Das Dorf vergreist“, sagt etwa Reiner Eger, selbst inzwischen pensionierter VHS-Direktor und früherer Bezirksausschuss-Chef. Er lebt seit 1980 im Dorf.

Und dann ist da vor allem das immer offensichtlicher werdende Problem mit dem Zentrum. Dort sieht es aus, als wäre das Dorf auf der Flucht: Manche Geschäfte stehen leer, viele sind nur provisorisch eingerichtet. Wilde Reklame wuchert, fast überall ist es schmuddelig. „Es ist so gut wie keine Einkaufsstruktur mehr da“, sagt Constanze Lindner-Schädlich, „wir haben fast alle Vielfalt verloren“. Reiner Eger: „Es gibt keinen Metzger mehr und keine anständige Kneipe. Der Zustand der Ladenstraße ist katastrophal.“ Und Christine Strobl, Bürgermeisterin im Münchner Rathaus, seit zehn Jahren im Dorf: „Es ist immer noch toll hier zu wohnen, aber die Entwicklung der Geschäftsstrukturen ist sehr bedenklich.“ Der Zahnarzt ist weg, der Bücherladen auch.

„Was soll der Quatsch?"

Übereinstimmend zählen alle auf, wie das neue Angebot aussieht: drei Makler, drei Internet-Shops, drei Friseure. „Was soll der Quatsch? Das kann doch auf Dauer nicht funktionieren!“, zürnt Ludger Korintenberg. Und dann erklärt er, warum es soweit gekommen ist: Auch die Ladenstraße besteht – ganz dörfliche Utopie – aus kleinteiligen Parzellen, die an einzelne Eigentümer verkauft wurden. Rund 50 Einheiten umfasst das kleine Zentrum des Olympiadorfes. Während nun Geschäftszentren in ähnlichen Siedlungen wie am Haderner Stern von einem einzigen Eigentümer gemanagt und gesteuert werden, macht im Olympiadorf jeder Ladeneigentümer sein eigenes Ding. Da die meisten nicht ortsansässig sind und ihre Dorf-Immobilie als Geldanlage besitzen, dreht jeder für sich an der Mietzinsschraube und holt Läden herein, die kurzfristig dabei mithalten können. Dadurch sinkt die Attraktivität des Zentrums insgesamt weiter, die Kunden bleiben aus, der Druck auf die Geschäftsleute wächst... – eine Spirale kommt in Gang, die früher oder später das System zusammenbrechen lässt. Das Olympiadorf ist offenbar kurz davor, diesen Punkt zu erreichen.

Inzwischen machen wütende oder enttäuschte Dorfbewohner das Thema öffentlich: Im „Dorfboten“ etwa schreibt Alexandra Dittrich: „Das Herzstück sieht bedrückend aus. Vielen ist die Ladenstraße zudem einfach zu schmuddelig und auch zu unangenehm zum Verweilen.“ Ihr Fazit: „Unser Nahversorgungszentrum ist keins mehr!“ Auch die offizielle Seite ist alarmiert: Herbert Hantelmann, Geschäftsführer der Eigentümer-Betriebsgesellschaft: „Wenn die Gesamtsituation erst einmal kippt, ist es schon zu spät für partielle Eingriffe.“

Doch was könnte die Lösung sein? „Wir brauchen einen Branchenmix und eine Regulierung der Geschäftsmieten“, so Ludger Korintenberg. Zuerst müsse man die Eigentümer der Geschäfte an einen Tisch bekommen und ihnen klarmachen, wie ernst die Lage sei. Dann könnte es endlich ein gemeinsames Konzept geben, das den Bewohnern wieder neue Läden für den täglichen Konsum und Betreibern eine langfristige Miet- und Kostenperspektive gibt. „In den nächsten Wochen“, so Ludger Korintenberg, „werden wir eine Versammlung haben. Wir müssen den Leuten die Augen öffnen“.

Auf der Rampe vom Dorfzentrum hinab zum U-Bahnhof steht ein Mann auf einer Hebebühne. Er malteinesdergroßen Rohre frisch an, im schönen, sanften Olympiarot von 1972. Das Rohr ist auch so eine Utopie, eine „Medialinie“, die Orientierung und Identifikation verbessern soll. Farbe dafür gibt es genug im Olympiadorf.

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