Sterbe-Experte: Auf jeden guten Friedhof gehört ein Café

München - Urne statt Sarg - dieser Trend besteht seit vielen Jahren in ganz Deutschland. Auch in München: Der Anteil der Urnenbestattungen ist in den vergangenen 20 Jahren von 48,5 Prozent im Jahr 2001 auf 67,9 Prozent im vergangenen Jahr gestiegen, wie das Referat für Gesundheit und Umwelt auf AZ-Anfrage mitteilte.
Der Anteil anonymer Bestattungen schwankte zwischen 4,5 Prozent und 8,6 Prozent. Fast kontinuierlich gestiegen ist die Zahl der Bestattungen unter Bäumen: Diese sind erst seit 2010 in München verzeichnet und haben sich von damals 32 auf 191 im Jahr 2019 erhöht.
Laut einer bundesweiten Umfrage von Aeternitas, einer Verbraucherinitiative zur Bestattungskultur mit Sitz in Königswinter, ist der Anteil des klassischen Sarggrabs, das gepflegt werden muss, an den von den Deutschen bevorzugten Bestattungsformen von 39 Prozent im Jahr 2004 auf 14 Prozent im vergangenen Jahr abgestürzt.
Der Sarg wird immer unattraktiver
In Ostdeutschland mache die Feuerbestattung inzwischen weit über 90 Prozent aus, sagt Alexander Helbach, Pressesprecher von Aeternitas. In Süddeutschland ist es ihm zufolge immerhin die Hälfte. In Coronazeiten, vermutet er, könne die Urnenbestattung zudem den Vorteil bieten, dass man mit einer Trauerfeier noch warten könne, bis etwaige Teilnahmebeschränkungen nicht mehr gelten.
Grundsätzlich scheint der Sarg immer unattraktiver - hat das nur finanzielle Gründe? Auch, meint Professor Rupert M. Scheule, der an der Universität Regensburg von November an den neuen Masterstudiengang Perimortale Wissenschaften leitet. Der Theologe sieht vor allem einen Trend zum pflegefreien Grab als Ursache für die Veränderungen. "Das ist den künftigen Toten wichtig, dass die Angehörigen nicht mit der Grabpflege belastet werden." Wenn etwa die Großmutter in Hamburg begraben sei, die Angehörigen aber in München wohnen, sei Pflege sehr schwierig.
Bestattungsformen im Wandel
Vielfältige Lebensentwürfe und veränderte Lebensstrukturen führten zu veränderten Bestattungsformen, sagt auch Alexander Helbach. "Wer will und kann sich noch um Gräber kümmern?" Das Grab sei kein Statussymbol mehr und den Menschen auch nicht mehr so wichtig.
Ist Pflege durch Gärtnereien keine Alternative, gibt es nur eigene Pflege oder gar keine? Das sei so, sagt Scheule. Das soziale Renommee als Beweggrund für eine ordentliche Grabpflege nehme ab, das gebe es vielleicht noch auf dem Land, nicht aber in der Großstadt. Er kennt Friedhofsverwaltungen, die Familien suchen für die Nachnutzung von "wohnzimmergroßen Gruften". "Da findet man niemanden." Dieses Sterben von Friedhofskultur gehe einher mit einer "Pluralisierung der Ästhetik" - oder anders gesagt: Erlaubt ist, was gefällt. Scheule hat in München Windräder, Springbrunnen, Oster- und Weihnachtsdeko auf Gräbern gesehen. "Das große Repräsentationsding", sagt er, "ist passé."
Der Trend zu anonymen Bestattungen sei ebenfalls gestoppt, hat Aeternitas-Sprecher Helbach beobachtet. Es gebe inzwischen günstigere Angebote mit Namensnennung wie etwa Bestattungswälder mit Plaketten oder Gemeinschaftsgräber mit einer Stele, auf der die Namen der Verstorbenen angegeben sind.
Viele Friedhofsverwaltungen machten inzwischen solche Angebote. Die jahrzehntelang genutzten Familiengräber, das sieht er wie Scheule, würden immer weniger.
Die Friedhöfe werden Scheule zufolge außerdem auch stetig interkultureller: "Wir sehen muslimische Gräberfelder, wir sehen auch christlich geprägte Gräber, wir sehen viele freie Flächen, das ist soziologisch sehr interessant." Die freien Flächen seien eine Herausforderung für die Kommunen.
Auf jeden guten Friedhof gehört ein Café
Scheule hat einen Vorschlag für die Gräberfelder der Zukunft: "Ich glaube, dass auf jeden guten Friedhof ein Café gehört" - als Ort der Entspannung. Und auch einen Ort der Aussprache wünscht er sich als Seelsorger.
Der Platz der letzten Ruhestätten soll seiner Ansicht nach "mehr zur Lebensfläche werden - die große Zeit der Todesverdrängung liegt hinter uns". Das zeigt sich nicht zuletzt auch an seinem neuen Regensburger Studiengang, der sich mit "Sterben, Tod und Trauer" aus Sicht unterschiedlicher Disziplinen beschäftigt. Normalerweise würden für einen neuen Masterstudiengang zehn bis 15 Studierende zugelassen, erzählt Scheule. Mit dem Tod aber wollen sich jetzt gleich 50 junge Menschen wissenschaftlich befassen. In München stehen sogar Windräder auf manchen Gräbern.