Nicht nur Kriminalität und Drogen: AZ-Rundgang im Bahnhofsviertel München
Ludwigsvorstadt - Am Gleis 11 beginnt die Geschichte des Bahnhofsviertels als multikulturelles Viertel. Dort, wo auch die Bahnhofsmission ist, kamen bis in die 80er Jahre die Gastarbeiter an.
Ab Mitte der 70er machten sich viele türkische Gastarbeiter selbstständig. "Das Viertel war potthässlich und für die bürgerlichen Münchner uninteressant", sagt Elisabeth Siedel. Die Islamwissenschaftlerin macht für die Interkulturelle Akademie Stadtführungen durch das südliche Bahnhofsviertel.
Ludwig I. hatte das Bahnhofsviertel eigentlich als Gartenstadt ähnlich dem Beethovenplatz geplant. Damals war’s eine Fläche mit unfruchtbarem Land, auf der ein paar Tiere weideten. Die Bayerstraße, die Arnulfstraße und Wirtshäuser gab’s. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Bahnhof gebaut. "Das änderte alles", sagt Siedel. Arme Juden machten in den Blockbauten Schuhläden und Wäschereien auf.
Die Flüchtlinge von gestern haben sich hier integriert
Nach Hitler gab es kaum mehr Juden in dem Viertel. Zusammengeschusterte Schwarzbauten wurden hochgezogen, in der Goethestraße tummelten sich in Clubs wie dem Havanna die GIs und erlebten spätere Stars wie Hugo Strasser und Max Greger. Um 1980 wurden die Schwarzbauten abgerissen und gebaut. "So schnell wie möglich. Schön war das nicht", sagt Elisabeth Siedel. "Deshalb haben viele Familien, die in der Schwanthalerstraße gelebt haben, ihre Häuser und Wohnungen verkauft." Was niemand haben wollte, entdeckten die Einwanderer. Zu den Türken kamen mit dem Golfkrieg die irakischen Kurden. "Das sind die Flüchtlinge von gestern, die sich hier Geschäfte aufgebaut haben."
Sie zeigt, was das Bahnhofsviertel zu bieten hat: Stadtführerin Dr. Elisabeth Siedel vor dem Sport-Café Schiller. Foto: min
23.000 Arbeitsplätze gibt’s im Bahnhofsviertel, nur 6.000 Menschen leben hier. Die größte Gruppe der Einwohner sind Kroaten. Einer von ihnen ist ein Hausmeister, von dessen "Garten von Borscho" die Menschen im Viertel schwärmen. Er kam mit dem Jugoslawienkrieg und verwirklicht seine Gartenträume im Hinterhof der Schillerstraße 14.
Nicht nur Import-Export-Läden
Wer nicht an Kriminalität und Drogen denkt, sondern sich offen bewegt, entdeckt lauter solche Orte: Im Antep Sofrasi in der Goethestraße gibt’s keine Pommes, aber authentische persische Küche. Die Goethestraße ist die türkische Geschäftsstraße. In der Landwehrstraße werden im Sara frische Fladen für 40 Cent aus einem Fenster verkauft. Die Straße wird mehr und mehr arabisch. Und das Sport-Café Schiller ist mehr ein Museum denn eine Bar.
Die Stadt will das Viertel mit Vereinen gezielt entwickeln. Die Geschäfte sind im Laufe der Jahre schicker geworden: Es gibt nicht nur Import-Export-Läden und Imbisse, sondern Apotheken, Brautmoden und Beerdigungsinstitute, die Tote in die alte Heimat überführen. "Weil immer mehr Araber aus der Golfregion kommen, wird fast alles auch in arabischen Lettern beworben", sagt Siedel.
Das Bahnhofsviertel hat sich auf die Araber eingestellt: Beim Friseur gibt’s Nebenräume für verschleierte Frauen. "Das gab’s vor zehn Jahren noch nicht", weiß Elisabeth Siedel. Agenturen haben sich angesiedelt, die Krankenhausaufenthalte organisieren und es gibt ein so exklusives Boardinghouse für Araber, dass die keine Werbung machen oder eine Homepage haben. Es gehört dem Staat Dubai. "Mittlerweile sind die Mietpreise hier höher als in der Maxvorstadt."
Ibrahim Kavun - der König des Bahnhofsviertels
Der König im Bahnhofsviertel ist keine Rotlichtgröße, sondern der Türke Ibrahim Kavun. Vor dreißig Jahren begann er sich sein Imperium aufzubauen: Heute gehören ihm Wohn- und Gewerbehäuser und Hotels. Häufig sieht man Fassaden mit dem Kavun-Rot. "Er kauft die Häuser, restauriert sie und bewahrt sie so." Zudem ist er engagiert im Verein Südliches Bahnhofsviertel, in dem vor allem Türken und Deutsche das Viertel entwickeln. Eine der deutschen Familien, die schon immer hier ist, sind die Wickenhäusers. Sie begannen hier mit einem Autohaus, wechselten die Branche und blieben mit Hotels und den Münchner Stubn dem Viertel treu.
Über 20 Nationalitäten leben in dem jungen Viertel. Das Durchschnittsalter liegt bei 39,7 Jahren. In ganz München liegt der Schnitt bei 41,2 Jahren. Über die Hälfte der Menschen hat einen Migrationshintergrund. Manche leben schon immer hier. So wie Leo Milchiker, Überlebender des Holocaust, der als Besitzer eines Pfandhauses und Juwelier angefangen hat und vor einigen Jahren ein modernes Boutiquehotel, wie man es in der Schillerstraße nicht vermuten würde, aufgemacht hat.
Die alten und neuen Bewohner führen die rasante Entwicklung des Viertels so weiter. Als im Sommer 2015 Flüchtlinge am Gleis 11 ankamen, waren sicher auch welche unter ihnen, die irgendwann ein Geschäft hier aufmachen werden.
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