Neues Haus mit 18 Stockwerken: Bauvorhaben in der Appenzeller Straße sorgt für Aufruhr in München
München - Seit rund 60 Jahren wohnt Therese Müller (Name geändert) schon in Fürstenried West. Vom Küchenfenster ihrer Wohnung in der Bellinzonastraße aus blickt die 78-Jährige in diesen Tagen allerdings auf ein ungewohntes Bild: Auf den grünen Wiesenflächen stehen Kräne, das Haus gegenüber ist in ein Baugerüst gehüllt. Das Gebäude wird gerade aufgestockt, zwei Etagen höher soll es werden. Es ist nicht das einzige Haus im Gebiet um die Appenzeller Straße, das auf diese Weise vergrößert wird.
Acht weitere werden erhöht, zwei erhalten Anbauten, zwölf Häuser werden komplett neu gebaut - es wird nachverdichtet in Fürstenried West. Die Bayerische Versorgungskammer (BVK), Eigentümerin der schon bestehenden 1500 Wohnungen in Fürstenried West, will in dem bereits erschlossenen Quartier bezahlbaren Wohnraum schaffen. Einigen Anwohnern sind die Pläne viel zu groß dimensioniert. Sie haben sich zur Bürgerinitiative Pro Fürstenried zusammengeschlossen und kämpfen seit Jahren gegen das Vorhaben.
Bauvorhaben in Fürstenried: Für eines der neuen Gebäude soll ein bewohntes Haus abgerissen werden
Die Planungen gehen zurück bis ins Jahr 2016. Damals fand ein Wettbewerb statt, bei dem mehrere Entwürfe zur Nachverdichtung eingereicht wurden. Wie Kurt Grünberger von der Initiative Pro Fürstenried erzählt, kamen die Architekturbüros, die eine in seinen Augen verträgliche Planung vorlegten, gar nicht erst in die nächste Runde. "Es ging nur um Masse." Die Entscheidung fiel schließlich auf den Entwurf des Berliner Architekturbüros LIN.
Für eines der neben Anbauten und Aufstockungen vorgesehenen zwölf neuen Gebäude soll ein bestehendes, bewohntes Haus abgerissen werden. Die neuen Gebäude sollen bis zu 18 Stockwerke haben, das größte soll rund 56 Meter hoch werden – 15 Meter mehr als das bisher höchste Haus im Viertel. 650 neue Wohnungen entstehen, die Bürgerinitiative erwartet dadurch einen Zuzug von 1200 bis 1500 neuen Einwohnern.
Bürgerinitiative wehrt sich gegen Bauprojekt in der Appenzeller Straße in München
Dieses Wachstum birgt Risiken, davon sind die Kritiker überzeugt. Zu dicht seien die neuen Häuser an die alten gedrängt, dadurch würden letztere stark verschattet, sagt Grünberger. "Da geht es um Grundrechte. Der Anwohner, der selbst Architekt und Stadtplaner ist, befürchtet eine enorme Verschlechterung der momentan "gesunden Wohnverhältnisse". Denn manche Wohnungen in bestehenden Häusern hätten nach Umsetzung der Nachverdichtung kein direktes Sonnenlicht mehr, sagt er. Durch den Zuzug von über 1000 neuen Bewohnern erwartet die Bürgerinitiative zudem soziale Konflikte, spricht sogar von einem Brennpunkt.
Die Zahl der Stellplätze etwa ist nach Ansicht der Anwohner zu gering bemessen, da der Schlüssel auch auf die bestehenden Wohnungen übertragen wird. "Circa 1000 Wohnungen haben dadurch keinen eigenen Parkplatz", sagt Grünberger. Auch für die Umwelt hat die Planung seinen Worten zufolge drastische Konsequenzen: 184 Bäume müssen gefällt werden, davon unterliegen 138 aufgrund ihres großen Stammumfangs der Baumschutzverordnung. Die Versiegelung steigt laut Grünberger von knapp 50 auf über 60 Prozent. Das birgt dem Stadtplaner zufolge im Sommer die Gefahr der Überhitzung.
Der Bund Naturschutz hält die 184 Baumfällungen für inakzeptabel
Insgesamt halten Grünberger und seine Mitstreiter die Planungen für rücksichtslos gegenüber den bisherigen Bewohnern. Ihre Einwände, so empfinden sie es, würden nicht gehört. "Es gibt genügend fachlich kritische Stellungnahmen", so Grünberger. "Aber darauf wird nicht geachtet." Tatsächlich hat etwa der Bund Naturschutz eine Kritik abgegeben: Die Organisation lehnt den Bebauungsplan ab, unter anderem sei die Neuversiegelung zu hoch und die Baumfällungen inakzeptabel.
Der Bayerischen Versorgungskammer ist durchaus bewusst, "dass vereinzelte Mieter in unserem Quartier Fürstenried West bevorzugen würden, wenn hier nicht gebaut werden würde", schreibt ein Sprecher auf AZ-Anfrage. Seinen Ausführungen zufolge sei aber die Mehrheit für das Vorhaben. Das zeige sich durch die Rückmeldungen in der jährlichen Mieterumfrage, in den wöchentlich stattfindenden Mietersprechstunden sowie im Dialog mit den Mietern.

Die Bedenken der Mieter nehme man sehr ernst, so der Sprecher. "Allerdings muss in unserer wachsenden Stadt auch der notwendige Wohnraum Platz finden." Man sei "stolz darauf, mit unserer Quartierserweiterung hier einen wesentlichen Beitrag zur Linderung der Wohnungsnot in München zu leisten", insbesondere in der aktuellen Zeit, in der "nahezu jedes andere Wohnbauvorhaben gestoppt oder pausiert wurde". Im Viertel entstünden dringend benötigte Mietwohnungen im niedrigen bis mittleren Preissegment. Bei der Planung seien die gesetzlichen Normen zum Abstand zwischen Gebäuden beachtet worden: "Die strengen Regelungen der Bayerischen Bauordnung wurden hierbei vollumfänglich eingehalten."
Die Bayerische Versorgungskammer kann die Einwände nicht nachvollziehen
Um sicherzustellen, dass die Verschattung nicht zu stark ausfällt, seien zahlreiche Studien durchgeführt worden. Die Positionierung der Gebäude sei entsprechend angepasst worden. Beispielsweise seien die Hochhäuser im Norden des Gebiets platziert worden, damit sie keinen Schatten auf den Bestand werfen. Dass die Anwohner einen sozialen Brennpunkt befürchten, kann die BVK nicht nachvollziehen: "Wir verfolgen ein starkes, sozialverträgliches Konzept."
Bereits das Bestandsquartier zeichne sich durch seine gute soziale Durchmischung aus. Den geringen Stellplatzschlüssel von unter einem Auto pro Wohnung begründet die BVK mit einem neuen Mobilitätskonzept für das Viertel: Demnach soll mehr auf Leihangebote wie Carsharing gesetzt werden, auch Lastenräder soll man mieten können. Das eigene Auto soll in den Vorstellungen der BVK dadurch weitgehend überflüssig werden.
Fürstenried sei ein "Vorzeigeprojekt", sagt der Bauherr
Die BVK sieht in Fürstenried West ein "Vorzeigeprojekt für eine nachhaltige Quartiersentwicklung" und begründet das auch mit dem Freiflächenkonzept: Das Grün im Viertel würde ökologisch aufgewertet, trotz Baumfällungen. So werde es unter anderem offene Wiesenflächen, Treffpunkte im Grünen sowie beispielsweise Dachgärten geben. Die Aufenthaltsqualität soll dadurch steigen. Bei den Baumfällungen werde darauf geachtet, Nistplätze zuvor umzusiedeln. "Etwaige zu fällende Bäume werden an anderer Stelle neu gepflanzt. Damit sorgen wir dafür, dass sich der bisherige Baumbestand im Quartier nicht verändern wird und der ökologische Wert in enger Abstimmung mit den zuständigen Naturschutzbehörden langfristig erhalten bleibt."
Die Kritiker sehen das freilich anders: Alte Bäume seien jungen, neu gepflanzten in ihrer ökologischen Bedeutung weit überlegen. Erst nach mehreren Jahrzehnten hätten Ersatzpflanzungen den gleichen Wert, schreibt der Bund Naturschutz in seiner Stellungnahme zum Projekt. Kurt Grünberger und seine Mitstreiter von Pro Fürstenried lassen sich von den Ausführungen der BVK nicht beruhigen. Dem Anwohner ist klar, dass viele Nachbarn die Veränderungen nicht mitmachen. "Einige sind schon weggezogen." Denn die Bewohner hätten sich bewusst für die Ruhe des Stadtrands entschieden. Die Umsetzung der Nachverdichtung bedeutet für ihn hingegen eine Urbanisierung. "Das wollen wir nicht."
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