Nachbarn "entwurzelt": Kultgeschäft in München steht nach über 60 Jahren vor dem Aus

München - Über dem Schaufenster an der Kaulbachstraße 54 hängen noch die fünf geschwungenen Buchstaben für "Milch". Das Paulaner-Schild ist auch noch da, "Lebensmittel und Getränke" ist da zu lesen. Aber das Rollo hinter den aufgeklebten Brezn im Fenster ist heruntergelassen. Und die Eingangstür um die Ecke verriegelt ein Metallgitter.
Jetzt wächst sogar schon Efeu in den Türschlitz hinein. "Wie bei Dornröschen", sagt Gisela Kochs (80), die mit ihrem Rollator gerade an den zwei rotweißen Stehtischen vor der Tür steht. Ihr Stammplatz war das mal, erzählt sie und schaut wirklich traurig aus. Weil der "Milchladen", der seit 1963 die Altschwabinger mit allem beglückt hat, was ein Tante-Emma-Laden bieten muss, nun Geschichte ist.

Im Tante-Emma-Laden in München gab es (fast) alles – vom Krapfen bis zum Kaugummi
Sang- und klanglos hat das Minigeschäft mit Kaffee-Stehausschank und einem urigen Sortiment vom Krapfen bis zum Kaugummi Ende Oktober plötzlich zugesperrt. Die betagte Ladengründerin und achtfache Mutter Anna Brauner, auf die das Geschäft lief und die in der Wohnung hintendran wohnte, war gestorben.
In den letzten Jahren waren zwei ihrer Töchter noch im Milchladen gestanden, ein Sohn half beim Einkauf. Die Familie wollte dann aber nicht mehr. Jetzt ist es still geworden in dem Karree zwischen Schack-, Königin- und Ohmstraße am Englischen Garten.

Mit dem Milchladen verschwindet ein Treffpunkt in Schwabing
"Ich vermiss den Milchladen furchtbar", sagt Gisela Kochs, "die alten Leute in der Nachbarschaft sind auch traurig." Mit dem Laden sei ihr Treffpunkt verschwunden. Ihr Anker und Ratschfleckerl im Viertel.
Auch weil es weit und breit für Menschen mit Gehproblemen nichts ähnliches gibt, auch keinen Supermarkt. Gerade mal einen kleinen Metzger, eine Apotheke und ein Eckcafé für eher junges Publikum gebe es noch. Richtig entwurzelt fühle man sich da.

Der kultige Laden hatte in München viele Fans, auch unter Studenten
Verstehen kann man das gut. Gisela Kochs, früher Grundschullehrerin in der Maxvorstadt, wohnt seit 1986 nur ein paar Meter vom Milchladen entfernt. Von Anfang an sei sie jeden Morgen um kurz nach 7 auf einen Kaffee dort gewesen und habe regelmäßig Brot, Milch, Nudeln, Eier, Schokolade und Säfte eingekauft, mit der halben Nachbarschaft. Mit der Pensionierung kam sie dann später am Vormittag, wie die älter gewordenen Nachbarn. "Ein Jazzpianist", zählt sie auf, "eine Malerin, eine Goldschmiedin, ein Physiotherapeut..."
Seit sie nicht mehr gut zu Fuß ist, habe der Milchladen ihr die Einkäufe sogar in die Wohnung gebracht. Fast jeden Tag hat sie etwas gebraucht, man kann das in ihrem Haushaltsbüchlein nachlesen. Aber auch unter Studenten hat der kultige Laden viele Fans gehabt. "Schon meine Großmutter hat da eingekauft, jetzt kaufen meine Kinder zwischen den Univorlesungen ein", schreibt eine Münchnerin in den Google-Bewertungen. "Der beste Tante-Emma-Laden der Welt", heißt es da auch, "und ich hoffe, er schließt nie und wird sich über viele Generationen halten."

Hoffnung für die Nachbarschaft: Lebensmittelladen wird gesucht
Mit der Familie Brauner enden über 60 Jahre Familienbetrieb. In diesen Tagen räumen sie noch das Geschäft und die Wohnung aus. Darüber reden wollen sie nicht mehr gern – Schließen und Abschiednehmen tut weh, und sie haben noch viel zu tun. Aber ein wenig Hoffnung gibt es doch für die Nachbarschaft. Wie die AZ erfahren hat, will der Hauseigentümer, die Allianz, die Räume renovieren, sobald sie leer geräumt sind. Und dann Wohnung und Ladenfläche baulich voneinander trennen.

Vier Monate könne das dauern, heißt es. Und man sei offen für die Idee, dass danach ein kleiner Milch- oder Lebensmittelladen ins Geschäft zurückkehrt. Der Laden werde 40 bis 50 Quadratmeter groß sein, auch eine Freischankfläche wird dazugehören, falls vom neuen Mieter gewünscht. Nur über die künftigen Mietkosten schweigt man sich noch aus.
AZ-Info: Wer den "Milchladen" an der Kaulbachstraße 54 anmieten möchte, kann sich hier bewerben: info@allianz-realestate.com