München hat einen Berlin-Komplex!

AZ-Leserin Anja Moser lebt gerne in ihrem Viertel und fühlt sich wohl. Eigentlich, denn die Zeit ändert sich und manches findet sie befremdlich.
Anja Moser |
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Grün und bunte: Das Glockenbachviertel zieht viele junge Leute an. Vor allem dann, wenn es dunkel wird. Die Anwohner nehmen es meistens gelassen.
Google Street View Grün und bunte: Das Glockenbachviertel zieht viele junge Leute an. Vor allem dann, wenn es dunkel wird. Die Anwohner nehmen es meistens gelassen.

AZ-Leserin Anja Moser lebt gerne in ihrem Viertel und fühlt sich wohl. Eigentlich, denn die Zeit ändert sich und manches findet sie befremdlich. 

Das klingt in fremden Ohren bestimmt übertrieben. Nicht-Glockenbacher glauben, die macht sich wichtig. Das war früher vielleicht so, das ist ja nicht Berlin und überhaupt sind wir in Bayern.

Ihr täuscht euch. Ihr Laimer, Truderinger, Sendlinger, ihr täuscht euch ganz gewaltig.

München hat einen Komplex, einen riesengroßen Berlinkomplex. Und deshalb gibt es in meinem Viertel den teuersten Kaffee - Soja, entcoffeiniert und mit Caramellsirup, dem noch nie einer wehgetan hat - die teuersten Kinderwägen, die meisten Geschäfte von Röcken nähende Grafikerinnen und ganz sicher die peinlichsten Namen für Friseursalons.

Aber das ist nicht so schlimm. Ich habe mich längst daran gewöhnt, dass erwachsene Menschen auf Kinderstühlchen vor Kaffees kauern.

Ich drehe mich nicht mehr um, wenn Männer in glitzernden Schlaghosen zum Bäcker gehen und Frauen jenseits der dreißig süße, kleine Pippi-Langstrumpf-Zöpfchen tragen.

Natürlich weiß ich, dass es Fahrräder gibt, die sollen so aussehen, als wären sie vom Flohmarkt, sind aber handgefertigt und gehören halt so – understatement, is klar. Mir macht es auch nichts mehr aus, dass mein Viertel Nachts um zehn mutiert zum Ballermann, dass halb Germering und Ebersberg, Niederbayern und die Menschen aus Pfaffenhofen zum - Achtung - Party machen herkommen.

Ich habe mich dran gewöhnt, dass ich zur Arbeit gehe, wenn es gerade erst lustig wird und die Fragen, woher die ganzen Leute kommen und wie die das so machen, wie die Geld verdienen und ob die immer so aussehen - all das interessiert mich schon lange nicht mehr.

Bestimmt hat niemand in ganz München so viele Geldbeutel gefunden wie ich, aber bestimmt steigt auch niemand so oft in - Entschuldigung - Kotze.

Aber das sehe ich sportlich, mein morgendlicher Selbsterfahrungstrip, wie alt ich mich denn heute wieder fühlen werde, ist nicht uninteressant, andere gehen joggen, das hat wahrscheinlich einen ähnlichen Effekt.

An manchen Tagen machen sie mich so wütend, meine kleinen Nachtschwärmer, dass ich schreckliche Muttersätze auf der Zunge liegen habe.

Und dann wieder gehört ihnen mein Neid, meine Sehnsucht und ich finde mich jämmerlich spießig, wie ich so ganz ohne Tanzen meine Dienstagnacht verbracht habe.

Aber das Problem ist woanders. Es ist so, dass ich dreimal die Woche feststellen muss, wie verklemmt ich bin, wie prüde, wie unbedarft und dass in meinem Herzen Provinz ist.

Von dem, was Menschen miteinander machen können, hatte ich bis vor zehn Jahren eigentlich überhaupt keine Ahnung. Und ich war ganz sicher kein Kind mehr, als ich von Schwabing ins Glockbachviertel gezogen bin.

Aber ich habe mich nie sonderlich dafür interessiert, was andere daheim so tun. Ich habe immer gedacht, ich wäre ein Punk und modern, großzügig und tolerant. Aber nein, es stimmt nicht. Kleingeistig bin ich und halt ein bisschen romantisch und wahrscheinlich auch weltfremd.

Und der Drogeriemarkt an der Ecke hat eine Auswahl an Gummis, das habe ich nicht für möglich gehalten, dass es so was überhaupt gibt. Gut, er hat auch Zahnpasta und Seife, aber eben auch Sachen, die mich überfordern, wenn ich bloß schnell Waschmittel kaufe.

Schräg gegenüber ist ein Pornoladen und ein Piercingstudio und daneben ein Nagelstudio, aber ich glaube, zwischen den dreien ist nicht allzu viel Unterschied. Bei uns im Viertel wird man gewaxt, das Make-up lassen wir uns tätowieren und die Fingernägel sind aus Plastik.

Am und im Körper tragen wir Metall, Botox und Silikon, Hauptsache fesch.

Mein Viertel ist oversexed.

Und das hat überhaupt gar nichts damit zu tun, dass es hier immer noch ein paar sehr nette Bars gibt, die sehr wenig heterosexuell sind.

Vielleicht hat es mit dem Berlinkomplex zu tun, keine Ahnung.

Aber dafür habe ich hier auch schon mal ein Engerl gesehen. Ein richtiges, echtes Weihnachtsengerl.

Es war riesig groß, bestimmt zwei Meter zehn. Und es hatte große, glitzernde Flügel und ist im Schneesturm über die Straße gehuscht. Ausgerechnet an Weihnachten.

Und wer kann schon sagen, ob ein Engerl ein Mann ist oder eine Frau?

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