Ein Baum-Leben: Die Kastanie in der Türkenstraße
Derzeit wird in München über "Baumpatenschaften" diskutiert. AZ-Leserin Helga Asenbaum kümmert sich mit ihren Nachbarn schon seit 1997 um die 130 Jahre alte Türkenstraßen-Kastanie. Hier schreibt Sie über diese besondere Beziehung.
Maxvorstadt - 1874 wurde die Schule an der Türkenstrasse gebaut. Das Gebäude war von einer hohen Mauer umschlossen, wie das bei Schulen üblich war und direkt gegenüber der großen Schultüre wurde eine Kastanie gepflanzt.
Es gibt ein Foto vom Anfang des 20. Jahrhundert, auf dem man die Kastanie gut erkennen kann, ihre Krone reicht bereits bis zum zweiten Stockwerk der Schule.
Der Zweite Weltkrieg hat die Kastanie verschont, obwohl die meisten Häuser der Umgebung durch Bomben zerstört waren und sie wurde auch nicht abgesägt, um die Wohnungen zu beheizen, wie es sonst allgemein üblich war. Lediglich an der Westseite hat sie einen großen Ast verloren, wie das zustande gekommen ist, ist nicht mehr nachzuvollziehen.
Jetzt ist dort ein grosses Loch zu sehen, sie selbst ist in der Zwischenzeit fast 20 Meter hoch. Und einfach alt! Und wunderschön!
Im Frühling, wenn die ersten Knospen kommen, im Mai, wenn sie dicht an dicht ihre traumhaft weißen Kerzen zeigt aus denen dann kleine Kastanien wachsen, wenn sich im Spätsommer langsam die Blätter gelblich färben und sich die inzwischen dicken stacheligen Früchte öffnen und ihren braunen Inhalt abwerfen.Und im Winter, wenn dicker Schnee auf den Ästen liegt, schaut unser Türkenstrassen-Kastanienbaum immer wieder ein bisschen anders aus, im strahlenden Sonnenlicht, wenn alles glitzert, in der Nacht, manchmal wie eine unheimliche Figur gegen die weiße Schulwand.
Im Winter 1997, kurz vor Weihnachten unterhielt ich mich mit Frau Kiermeier, die einen Zeitschriften-Laden im Haus Türkenstrasse 59 betreibt. Sie sagte mir mit trauriger Stimme: „Wissen Sie es schon? Die Kastanie soll gefällt werden!“
Wie man in Bayern sagt: mich traf fast der Schlag. „Das kann nicht sein, warum denn?“ Die Antwort kam ziemlich spärlich: es soll ein sogenannter „Gefahrenbaum“ sein, ein Gutachter habe das festgestellt. Meine Nacht war ohne Schlaf. „Nicht mit mir!“
Ich wohnte seit zwei Jahrzehnten im vierten Stock der Türkenstrasse 59 – genau gegenüber der Schule – mit Blick auf die Kastanie. Was kann ich tun?
Bei der nächsten Sitzung des Bezirksausschusses 3 Maxvorstadt erfuhr ich nun tatsächlich von diesem Gutachten, das ich mir dann auch besorgte. „Ich kann es einfach nicht glauben, dass der Baum krank und gefährlich für die Umwelt sein sollte.“
Mit den Hausbewohnern der Türkenstrasse 59 beschrieben wir ein altes Betttuch mit dem Text: „Rettet mich, ich soll geschlachtet werden“ und befestigten den „Aufschrei“ unterhalb der Kastanie.
Die Wirkung dieses Aufrufs war umwerfend! Die Türkenstraßler taten sich zusammen. Wir sammelten Geld, Frau Kiermeier in ihrem Laden war die Anlaufstelle. Mit Einverständnis der Stadt gaben wir bei einem anderen Gutachter ein zweites Gutachten in Auftrag, das nicht wenig Geld kostete.
Noch Ende Januar 1998 kam dieser neue Gutachter mit zwei 7,5 t Lastwagen angefahren, Baumkletterer befestigten stählerne Bänder im Baum und verbanden sie mit Geräten auf den Lastwagen. Diverse Messgeräte wurden am Fuss der Kastanie in die Wurzeln gesteckt und dann begannen die Lastwagen zu ziehen.
Und die Türkenstraßler, die Kinder aus der Schule, die Lehrer, die Polizei und der Gutachter beobachteten den Vorgang. Und ich spürte fast körperlich den Schmerz, den wir dem Baum jetzt gerade zufügen.
Aber nichts passierte. Nach einer gewissen Zeit wurde dann wieder alles wieder abgebaut und der Gutachter verschwand mit seinen Leuten.
Und jetzt kam die Zeit des Wartens… Was würde das Ergebnis sein?
Kurz und gut: Wir obsiegten!!
Der Baum durfte bleiben. Er musste etwas gekürzt werden, aber letztendlich feierten die Türkenstrassler im Mai 1998 unter der blühenden Kastanie ein grosses Fest mit Musik und Tanz und Bier und Weißwürsten!
Wir bekamen damals von Christian Ude ein Gratulationsschreiben - das fand ich toll.
In der Zwischenzeit ist die Kastanie noch zweimal von Baumpflegern eingekürzt worden. Aber sie wächst immer wieder neu!
Der Platz unter der Kastanie ist mittlerweile ein kleiner Spielplatz geworden, den sich die Kinder immer wieder neu erobern. Die „Großen“ sitzen oder liegen auf dem kleinen Mäuerchen, das die Kastanie umrundet und lassen es sich gut gehen. man isst Eis, liest, ratscht oder schaut einfach nur in die Sonne.
Und manchmal steige ich über das Mäuerchen, gehe um den Baum herum, schau ihn mir an und freu’ mich einfach – und wenn’s im Sommer ganz heiss wird, gieße ich schon mal mit der Gießkanne.Und manchmal kommt auch die Stadt mit einem grossen Wasser-Container zum gießen.
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