Christuskirche in Gern zur NS-Zeit: Viel Demut, viel Wut
Gern - Viele Monate hat Christoph Lindenmeyer im kalten, zugigen Archiv der Christuskirche am Dom-Pedro-Platz verbracht. Dabei war der Professor für Christliche Publizistik von der Stiftung der Kirche eigentlich nur gebeten worden, die Unterlagen einmal für die Zeit des Nationalsozialismus durchzusehen.
Doch schnell wurde klar, dass hier nicht nur Material für eine Broschüre liegt. Sondern in den 340 Mappen viel Interessantes für ein Buch zusammenkommen könnte. "Vieles ist handschriftlich, vieles nicht vollständig, Briefwechsel brechen einfach ab", erzählt er. In seinem Buch habe er nicht urteilen, sondern die Geschichten erzählen wollen, sagt Lindenmeyer. "Ich will mich nicht 80 Jahre später hinstellen und sagen: Das ist nicht nachvollziehbar, wie die sich verhalten haben."
Widerstands-Aktionen von der Kirche
AZ: Sie schreiben im Buch über die Mitglieder der Kirchengemeinde: Wer von der Verfolgung der Juden wissen wollte, konnte es wissen. Ein großes Thema war sie aber offenbar nicht, oder?
CHRISTOPH LINDENMEYER: Nein, es war kein großes Thema. Meine Vermutung ist, dass die Kirche noch sehr stark von einem staatskirchlichen Verständnis geprägt war. Man hat versucht, sich zu arrangieren, wollte nicht provozieren.
Gab es trotzdem auch Akte des Widerstands?
Ja. Man hat zum Beispiel versucht, in einer stillen Mission Leute aus dem Konzentrationslager Dachau zu bekommen. Auch der zweite Pfarrer Kurt Frör ist nach einer Flugblattaktion von der Kirche freigekauft worden. Solche Aktionen gab es, aber man sprach nicht darüber.
Beim Lesen Ihres Buches entsteht der Eindruck, dass das Abwenden von den Nazis in der Gemeinde viel damit zu tun hat, dass sie selbst unter Druck gerät. Ist das so?
Ja, weil der Druck auch sehr groß wurde.
"Die Menschen sind schnell in einen nationalsozialistischen Rausch verfallen"
Wie sah das aus?
Es gab Hausdurchsuchungen, Befragungen, Hausarreste. Aber es gibt eben auch ganz Alltägliches. So ist der Druck zum Beispiel in der Jugendarbeit zu spüren. Die Hitlerjugend hat ihre Termine zum Beispiel genau dann angesetzt, wenn sich auch die evangelische Jugend traf. Sowas waren keine Zufälle. Das ist bewusstgemacht worden – aufgrund von Verlautbarungen aus Berlin.
Auf Fotos von 1942 sind die beschlagnahmten Glocken vor der Kirche zu sehen. Was war passiert?
Schon am 15. März 1940 hatte der "Beauftragte für den Vierjahresplan" Generalfeldmarschall Göring die "Erfassung von Nichteisenmetallen" erlassen. Zwei Jahre später wurden die Bronzeglocken der Christuskirche beschlagnahmt, übrigens zum zweiten Mal, denn bereits im 1. Weltkrieg sollten die Glocken entfernt werden. Deshalb war 1942 die Hoffnung groß, dass die Glocken auf dem Turm bleiben könnten. Aber sie wurden diesmal abmontiert und eingeschmolzen.

Kann man an der Geschichte der Christuskirche auch Grundsätzliches lernen über die Zeit?
Ich finde zum Beispiel sehr interessant, an den Briefen zu sehen, wie schnell Menschen in einen nationalsozialistischen Rausch verfallen. Man sieht das auch an den Begründungen für Kirchenaustritte. Umgekehrt versuchten dann, 1945 Gemeindemitglieder Persilscheine zu bekommen. Da schrieben Frauen an den Pfarrer: "Sie wissen, dass mein Mann in der SS war, aber er war der Gemeinde doch immer treu ..."
Wurden auch Persilscheine verweigert?
Ja.
"Der Vikar musste zur Gestapo – wegen seiner Silvesterpredigt"
Zurück in die unmittelbare Nazi-Zeit: Wie haben sich die Gemeindeoberen positioniert?
Der zweite Pfarrer begrüßte den Nationalsozialismus zunächst, wandte sich aber zunehmend ab – und fand auch das Flugblatt normal, nach dessen Verteilen Gemeindemitglieder verhört und verhaftet wurden. Der erste Pfarrer Ernst Kutter war nach allen Unterlagen ein außerordentlich beliebter Pfarrer. Er war sicher kein Nazi – und seine Distanz nahm ebenfalls immer mehr zu. In den Briefen sieht man zum Beispiel, dass das "Heil Hitler" verschwindet.
Und es gibt zum Beispiel eine Silvesterpredigt des Vikars, nach der er zur Gestapo vorgeladen wurde. Er hatte gepredigt zum Thema "Alles hat ein Ende". Das haben die Nazis als einen Abgesang auf den Nationalsozialismus empfunden und so war es sicher auch gemeint. Nur war er nicht blöd, der Vikar, er hat das theologisch schlau eingebettet und die Gemeinde hat ihn dann bei der politischen Polizei wieder rausbekommen.
Walter Joelsen musste als "Halbjude" seine Schule verlassen – dabei wusste er gar nicht, was das sein soll. Er sagt im Buch, in der Pfarrjugend hätten sich Leute gefunden, die "Befehle satthatten". Wie ist das gemeint?
Er hat mir erzählt, wie ihm nach anfänglicher Begeisterung die Hitlerjugend mit ihrem ewigen Marschieren unglaublich auf den Geist ging. Als er dort nicht mehr hindurfte, hat er in der evangelischen Jugend der Christuskirche Freiheit erlebt, offene Diskussionen, das genaue Gegenteil von Hitlerjugend und dem Bund Deutscher Mädel. Das hat ihn fasziniert.
Wurde Walter Joelsen, als die Nazis ihn zum "Halbjuden" gemacht hatten, von den Pfarrern der Christuskirche unterstützt?
Walter Joelsen hat mir erzählt, dass Pfarrer Kuttner ein fabelhafter Mensch gewesen sei und ihm immer sehr geholfen habe. Übrigens hat Kuttner hat ihm später nach dem Krieg auch geholfen, dass Walter Joelsen Theologie studieren konnte. Mit einem Gutachten, das ich bei der Recherche für das Buch auch gefunden habe.
"Gern war immer eine Hochburg der Nazis"
Was ist das Spannende an der NS-Geschichte der Christuskirche? Dass sie besonders ist – oder gerade, dass sie exemplarisch für vieles steht?
Es ist das Exemplarische. Man kann vieles lernen über das Alltagsleben der Zeit, darüber, was in Kirchengemeinden passierte. Aber man muss natürlich auch wissen, dass Gern immer eine Hochburg der Nazis gewesen ist. Das war ja bis vor wenigen Jahren so, dass noch viele alte Nazis – oder deren Witwen – in Gern lebten. In der Gerner Straße, wo heute das Elektrohaus Kembügler ist, war übrigens früher eine Kneipe. Da ist Adolf Hitler aufgetreten nach seiner Landsberger Haft, als er nicht mehr in Sälen auftreten durfte. Er sprach von der Küche aus in den Saal, so war dem Gesetz Genüge getan.
Sie bewerten das Geschehen im Buch nicht. Aber welches Gefühl überwog beim monatelangen Eintauchen in diese Geschichten bei Ihnen?
Ich habe viel gestaunt, welchen Mut Menschen damals hatten. Da wird man demütig. Aber ich habe auch eine wahnsinnige Wut gehabt. Eine Frau schreibt, dass sie jeden Tag ein Bild Adolf Hitlers anschaue, sein durchgeistigtes Gesicht gebe ihr Kraft. Oder, dass die evangelische Landeskirche den Gemeinden vorgeschrieben hat, zum Geburtstag von Adolf Hitler ein Fürbitten-Gebet für "unseren Kanzler der nationalen Einheit" zu sprechen, dass Gott ihn beschützen möge. Da ist man fassungslos. Es ist einfach nicht zu verstehen, warum so viele Menschen dermaßen verblendet waren. Und das auch in der Gemeinde der Christuskirche.
"Der Birnbaum im Pfarrgarten. Eine evangelische Gemeinde im Nationalsozialismus", 320 Seiten, ist im Verlag Anton Pustet erschienen und kostet 24 Euro.
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