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AZ-Spaziergang in München: Obergiesing zeigt sich grün, beliebt und bodenständig

In Obergiesing ist noch das München der 80er und 90er spürbar. Eine noch frühere Episode gehört genauer beleuchtet. Aber das hat die Grünen-Bezirkschefin Carmen Dullinger-Oßwald längst auf dem Zettel.
Hüseyin Ince
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Am Giesinger Bahnhofsplatz findet freitags ein Markt statt. Auch Kinderveranstaltungen sind hier sehr beliebt.
Am Giesinger Bahnhofsplatz findet freitags ein Markt statt. Auch Kinderveranstaltungen sind hier sehr beliebt. © inc

München - Meist ist Obergiesing, südliches Ende der Stadt innerhalb des Mittleren Rings, nicht unbedingt im zentralen Blickfeld der Münchner. Über die Obergiesinger hinweg will man die Alpen sehen, vereinfacht gesagt. Viele denken beim Giesinger Berg vor allem an Sport, an Fußball, über Jahrzehnte geprägt durch die Sechzger und deren Wahrzeichen, dem Grünwalder Stadion (was natürlich noch zu Untergiesing gehört).

Vor 15 Jahren hat ein großer Knall den Stadtteil mal wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, ja sogar bundesweit. Per Liveübertragung wurde nämlich am 17. Februar 2008 das dominante Agfa-Hochhaus gesprengt. Und Deutschland schaute um 12.05 Uhr zu, wie der 52 Meter hohe Beton-Riese mit 125 Kilogramm Sprengstoff in die vorgesehene Grube krachte. Seither kracht's hier wenig, außer in der Nähe TSV 1860 München in Untergiesing-Harlaching.

Obergiesing: Aus dem Agfa-Hochhaus wurde eine markante Siedlung mit Mehrparteienhäusern

Das Gelände des Agfa-Hochhauses ist über Jahre hinweg zu einer durchlässigen, markanten Siedlung mit Mehrparteienhäusern geworden. Viele Familien leben heute hier. Das Agfa-Hochhaus hatte geschichtlich auch seine Schattenseiten. Ende der 40er Jahre wurden hierher Zwangsarbeiterinnen aus Osteuropa verschleppt, um Munition für die Nazis herzustellen. Dazu mehr auf der Tour. Giesing befindet sich weiter im Wandel. Klar, die hohe Nachfrage an Wohnraum macht auch hier keine Ausnahme. Gentrifizierung ist ein Thema.

Leere Baugruben überall. Viele Projekte stehen an und einige wurden wegen der gestiegenen Baukosten auf Eis gelegt. Ein Beispiel dafür ist die Baugrube an der Schwanseestraße (bei Hausnummer 14 bis 18). Eilig wurden hier bis zu 30 Platanen illegal gefällt, "es war eine Nacht- und Nebelaktion", sagt Bezirkschefin Carmen Dullinger-Oßwald, die viel höhere Strafen dafür fordert.

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Station 1: Der große Platz am Bahnhof

"Die Fläche hat Potenzial", sagt Dullinger-Oßwald, wenn sie vor dem Giesinger Kulturzentrum steht, direkt neben der Gleiswirtschaft. Auch im Blickfeld: der Hit-Markt. So lange der Markt offen ist, kaufen sich hier viele Giesinger Bier, setzen sich auf die Bänke und genießen das Wetter.

Doch nicht zum Vergnügen aller. "Eine Zeit lang war das Konfliktpotenzial sehr hoch, weil sich eine kleine Gruppe an Trinkern mit dem Wirt der Gleiswirtschaft angelegt hatte", sagt die Bezirkschefin. Aber das habe sich beruhigt. "Wir werden den Platz noch häufiger öffentlich nutzen", sagt sie.

Station 2: Vergessene Zwangsarbeiterinnen

Die Weißenseestraße 7 bis 13 hat eine dunkle Geschichte. Wenn es nach der Bezirkschefin Dullinger-Oßwald ginge, würde hier längst eine Gedenktafel informieren. Denn hier standen in den 40er Jahren Nazi-Baracken, in denen Zwangsarbeiterinnen aus Osteuropa gefangen gehalten wurden.

Hier standen in den 40er Jahren noch Haft-Baracken. Nazis hielten darin Frauen gefangen, die Zwangsarbeit verrichten mussten: Munitionsherstellung in den Agfa-Werken.
Hier standen in den 40er Jahren noch Haft-Baracken. Nazis hielten darin Frauen gefangen, die Zwangsarbeit verrichten mussten: Munitionsherstellung in den Agfa-Werken. © inc

"In unserer Familie war das von Kindesbeinen an ein Thema", sagt die Bezirkschefin. Ihre Großmutter habe immer davon erzählt, wie sie die Frauen mit Brot und Essen aus dem Fenster versorgt habe, während sie zum Agfa-Gelände getrieben wurden.

Station 3: Studentenbuden mit Holz

Am nächsten Stopp geht es um Architektur. Schon längst hätte das Gebäude links, an der Weißenseestraße Ecke Traunsteiner Straße, so aussehen sollen wie das Gebäude rechts im Bild. Bauherr ist das Studentenwerk. Aber aus mutmaßlich finanziellen Gründen belässt man es erst einmal bei der Gebäudereihe rechts, mit modernem Holzverschlag.

Links: der marode 50er-Bau, rechts: So soll es auch links mal aussehen.
Links: der marode 50er-Bau, rechts: So soll es auch links mal aussehen. © inc

"Es gibt ja in der Studentenstadt Freimann Hunderte sanierungsbedürftige Studenten-Appartments. Möglicherweise hat das Vorrang", sagt die Bezirkschefin. Aber sie würde gerne die Gründe kennen, warum hier nichts vorangeht und hat Vertreter des Studentenwerks zur nächsten Bezirksversammlung geladen.

Die Reihe mit den fertigen Häusern an der Weißenseestraße sieht jedenfalls von außen spannend aus. Wer sich für Architektur begeistert, kann sich das Ganze etwas näher ansehen.

Station 4: Das Grüne Band der Bewegung

Weiter wird geschlendert in Richtung Agfa-Gelände, wo früher das Hochhaus des Foto-Riesen stand. Heute sind weit und breit weiße, großräumig verspielte Mehrparteienhäuser zu sehen.

"Besonders gelungen ist die Transformation vom Firmengelände zum Wohnraum, weil alles so offen und durchlässig ist", sagt die Bezirkschefin. Ganz besonders hat es ihr das "Grüne Band" angetan, ein Streifen, der sich über einen großen Innenhof des Geländes streckt. Hier kann man Kinder spielen lassen oder auch als Erwachsener die ein oder andere Kletterprobe wagen – so weit das Auge reicht.

Carmen Dullinger-Oßwald auf einer der Schaukeln des Grünen Bandes auf dem heutigen Wohngelände des ehemaligen Agfa-Hochhauses.
Carmen Dullinger-Oßwald auf einer der Schaukeln des Grünen Bandes auf dem heutigen Wohngelände des ehemaligen Agfa-Hochhauses. © inc

Unterbrochen wird das Grüne Band nur vom Weißenseepark. Aber auch dort ist ein Mini-Parkur. Bewegung pur also, für alle die es mögen. "Der Streifen wird sehr gut angenommen. Bei gutem Wetter ist es hier immer voll", erzählt Dullinger-Oßwald.

Heutzutage vermisst sie in der Stadt den Mut, mit dem die Gebäude auf dem ehemaligen Agfa-Gelände ausgedacht worden sind. "Die würden sich aus Platzmangel nicht trauen, so einen riesigen begrünten Platz in der Mitte zwischen den Gebäuden zu planen", sagt sie über heutige Projekte.

Station 5: Ein Platz für eine Heldin

An diesem Ort, dem Ella-Lingens-Platz, ist nach dem Geschmack von Carmen Dullinger-Oßwald noch zu wenig los. "Wir haben schon versucht, dienstags einen Wochenmarkt einzurichten", erzählt die Bezirkschefin. Aber das sei vorerst gescheitert.

"Ein Donnerstag oder Freitag hätte sich besser geeignet", sagt sie. Aber da seien die Food-Trucks meist schon auf anderen Märkten im Einsatz. Es ist ein besonderer Platz für Dullinger-Oßwald. Denn hier schließt sich ein Kreis.

Der Ella-Lingens-Platz.
Der Ella-Lingens-Platz. © inc

Er ist der Ärztin gewidmet, die – als Inhaftierte des KZ Dachau – sich um die Zwangsarbeiterinnen von der Weißenseestraße kümmerte. Ella Lingens war eine entschiedene Gegnerin der Nazis. Nicht nur während der Reichspogromnacht bot sie jüdischen Deutschen Zuflucht. Lingens, ihr Mann Kurt und auch ein Baron Karl von Morcsiczky bekamen 1980 die heldenhafte Auszeichnung von Yad Vashem: "Gerechte unter den Völkern".

Station 6: Der Grünspitz und die Brücke

Am vorletzten Stopp, Lieblingsort von Carmen Dullinger-Oßwald: der Grünspitz in Sichtweite des Sechzgerstadions. Ein Treffpunkt für alle Giesinger, ein Platz mit hohen Bäumen und deren Sommerschatten, ganz ohne Konsumzwang. Im Kiosk kann man sich etwas kaufen, muss man aber nicht.

"Zuletzt haben wir hier das Jubiläum des Grünen-Ortsverbandes gefeiert", sagt die Bezirkschefin, und das mit hohen Gästen: Die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang war da und auch Gülseren Demirel, die inzwischen eine Abgeordnete des Bayerischen Landtages ist.

Die Bezirkschefin am Grünspitz.
Die Bezirkschefin am Grünspitz. © inc

Nach Dullinger-Oßwalds Geschmack gibt es in München viel zu wenige solcher Orte wie den Grünspitz, Treffpunkte für Stadtviertelnachbarn, in der Single-Hauptstadt München, wo deutlich über 50 Prozent der Haushalte aus einer Person bestehen.

Unsere Tour endet dann an der Heilig-Kreuz-Kirche. Die Bezirkschefin möchte noch kurz zeigen, wo die geplante Brücke verlaufen wird. Es ist ihr Herzensprojekt in der Stadt. Sie verläuft vom Kirchplateau über die Steigung des Giesinger Bergs zum Radweg am Isarhochufer.

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