Spitzenmedizin in München: Stress macht die Kinder krank
Therapeuten schlagen Alarm: Immer mehr Jugendliche verkraften den wachsenden Leistungsdruck in Schule und Alltag nicht – die Zahl psychischer Leiden nimmt stark zu. Die neue Tagesklinik in Harlaching hilft kleinen Patienten.
Bei Ophira* fing alles mit einem kleinen Stückchen Käse an. Sie kann sich noch ganz genau an jenen Tag erinnern. „Ich hatte mich so stark verschluckt“, sagt Ophira, nimmt dann ihre ganze Kraft zusammen und spricht es aus: „An einem Käsebatzen – damit haben meine Probleme angefangen.“
Die Ernsthaftigkeit und Konzentration, mit der die Zehnjährige über dieses Erlebnis heute spricht, lassen erahnen, wie sehr sie sich damals erschrocken haben muss. Danach sei es eigentlichwieder gegangen; na ja, zumindest „ein bisschen“, sagt Ophira. Doch dann ist es ihr nochmal passiert: „Da wollte ich nicht mehr essen. Das Verschlucken hat mir Angst gemacht.“ Und diese Angst wurde immer größer. Ophira konnte wochenlang nicht mehr richtig essen. Sie verlor stark an Gewicht und ging nicht mehr in die Schule. Als ihre Eltern sie in die Kinderklinik Harlaching brachten, war die Angst von Ophira bereits so groß, dass sie sich nicht mehr traute, ihre eigene Spucke zu schlucken. Ihr lief der Speichel förmlich aus dem Mund, zu furchtbar war die Vorstellung, sich an der eigenen Spucke zu verschlucken. Die Angst war größer als alles andere auf der Welt: der Hunger, der Wille und alles gute Zureden der Eltern. „Ich wollte schon noch essen“, erzählt Ophira rückblickend, „aber irgendwie hat mich etwas daran gehindert“.
Das Schicksal von Ophira ist für Nikolaus von Hofacker längst kein Einzelfall mehr. Es bestätigt eine alarmierende Entwicklung. „Immer mehr Kinder und Jugendliche reagieren mit Angst, Panik, Essstörungen und Depressionen auf den wachsenden Stress in unserer Gesellschaft“, sagt der Leiter der Klinik für Kinderund Jugendpsychosomatik am Klinikum Harlaching. „Wir stellen in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme von psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen fest.“
Aktuelle Studien belegen, dass heute schon jedes fünfte bis sechste Kind handfeste psychische Probleme hat, bei jedem zehnten Kind treten sogar extrem schwere Symptome auf. „Wir sehen vor allem eine deutliche Zunahme schulbezogener psychischer Probleme“, sagt von Hofacker. Deshalb hat der 49-jährige Kinderarzt und Kinder- und Jugendpsychiater mit seinem Team ein neues, ganzheitliches Tagesklinikkonzept erarbeitet, bei dem die Kinder täglich in ihre Familien zurückkehren können.
Für Ophira war der Kampf gegen ihre Angst ein langer Prozess in vielen kleinen Schritten. Er hat vier Monate gedauert. Jeden Morgen um 7.45 Uhr haben sie ihre Eltern in die Tagesklinik gebracht. Hier folgt die Behandlung einem klaren therapeutischen System. „Bei der sogenannten Angstexposition stellen wir erstmal gemeinsam mit dem Kind eine Angst-Hierarchie auf“, erklärt von Hofacker. Ophira musste also die Frage beantworten, was bei ihr die größte Panik auslöst, wenn sie sich vorstellt, etwas zu essen – und was die geringste. „Danach fangen wir an, mit dem Kind zu üben, die am wenigsten bedrohliche Situation auszuhalten.“ Schritt für Schritt wurde Ophira begleitet und konnte die Erfahrung machen, dass das, was sie befürchtet, überhaupt nicht passiert. Ophira hat es erlebt: „Ich verschlucke mich ja gar nicht, wenn ich Joghurt esse.“ So ein „Aha-Erlebnis“ ermöglicht es den Kindern, wieder Vertrauen und Selbstsicherheit zu gewinnen. Im nächsten Schritt aß sie Joghurt, in dem auch etwas Festeres war. Immer hatte Ophira in der angstauslösenden Situation eine vertraute Person an ihrer Seite; nicht allein zu sein, ist eine elementare Erfahrung. Doch das war nur der Anfang eines komplexen Prozesses.
Jeder Tag in der Klinik ist für die kleinen Patienten klar strukturiert: Zwischen 8 und 11.15 Uhr haben die Sechs- bis Zwölfjährigen gemeinsam in der klinikinternen staatlichen Schule Unterricht in den wichtigsten Fächern.
Für die Therapie ist die Schnittstelle Schule extrem wichtig. Denn viele Kinder haben schulbezogene Probleme. „Die Beobachtung, wie die Kinder im Schulalltag reagieren und wie man Verhaltensprobleme auch dort verändern kann, sind zentrale Fragen im Rahmen unseres Konzeptes“, erklärt von Hofacker. Über den Tag verteilt finden die unterschiedlichsten Therapien statt, einzeln und in der Gruppe: von der Musik- über die Bewegungs-, die Spiel- bis zur Gesprächstherapie. Der Schwerpunkt liegt auf kreativen, spielerischen Aspekten. „Hier habe ich auch die andere Seite des Lebens kennengelernt“, sagt Ophira.
Was diese andere Seite denn sei? „Die ist einfach anders als die normale, wo man nur zur Schule geht und Hausaufgaben macht.“ Kurz überlegt Ophira. Ihr Blick schweift über das grüne Plüschkrokodil, die Bären und Delfine hinüber zu den Puppen des Kasperltheaters vor der Wand. Sie antwortet: „Man könnte sagen, bei uns in der Schule machen wir keine Rollenspiele, da reden wir eigentlich fast immer nur. Hier habe ich es erlebt, dass man auch anders sehr viel Spaß haben kann.“
Der Alltag der Gruppe, das soziale Miteinander der Kinder, sei ein ganz wichtiger Faktor der Therapie, bestätigt von Hofacker. Zum Beispiel das Soziale- Kompetenz-Training: Dabei lernen die Kinder spielerisch, sozial schwierige Situationen zu bewältigen. Wie sage ich jemandem meine Meinung? Oder etwas Kritisches, ohne ihn gleich zu verletzen, und ohne Gewalt? Wie verhalte ich mich gegenüber einer Person, von der ich nichts will, die mir aber zu nahe kommt? Wie kann ich mich abgrenzen und wie kann ich das klar signalisieren? „Ja“, sie sei schon stolz, dass es ihr wieder so gut geht – „aber es war auch oft sehr anstrengend, wenn man zum Beispiel zwei Therapiestunden am Tag hatte“, sagt Ophira. In der Einzeltherapie versuchen die Kinder, beim gemeinsamen Spiel oder Gespräch mit ihren Therapeuten mehr von ihren Problemen zu verstehen – oder anders mit ihnen umzugehen.
Oft haben ihre eigenen Symptome mit Ängsten zu tun, die es in der Familie gibt. Und mit Entwicklungskrisen, wenn Kinder am Übergang in die Adoleszenz, also in der Pubertät stehen. „Sie entwickeln innerlich ein Dilemma zwischen ihren Wünschen, größer, selbstständiger und autonom zu werden“, erklärt von Hofacker, „und den Sorgen, was einem dann passieren kann, wenn man allein auf sich gestellt ist“.
In einer solchen Entwicklungskrise können wie bei Ophira gehäuft Ängste auftreten. Wenn die Psyche das Symptom einer Angststörung entwickelt, führt das dazu, dass die Kinder das Elternhaus gar nicht mehr verlassen. Das Symptom – im Fall von Ophira die Angst vor dem Verschlucken – bindet sie letztlich völlig an die Eltern. So wird dem Konflikt zunächst aus dem Weg gegangen. Aber der Preis ist hoch und der Leidensdruck kann schnell extrem groß werden. Auch deshalb ist die therapeutische Arbeit mit der ganzen Familie so wichtig. „Mit ihrem Einverständnis nehmen wir konfliktreiche Situationen zwischen Eltern und Kind auf Video auf, etwa Hausaufgaben- Situationen. Wir arbeiten dann direkt mit den Eltern am Video“, sagt von Hofacker. Die Eltern sehen so ihr eigenes Verhalten und der Therapeut kann mit ihnen überlegen: Was sind günstige Verhaltensweisen, was sind ungünstige? Therapeuten wie Nikolaus von Hofacker und sein Team wissen aus der modernen Entwicklunsgsforschung sehr genau, was Kinder wie Ophira eigentlich brauchen, was sie stabil und psychischwiderstandsfähig bei Belastungen, Problemen und Krisen macht.
Aber diese Aspekte des spielerischen und kreativen Lernens seien draußen in der „normalen Welt der Leistungsgesellschaft“ unterbelichtet. „Diesen Teufelskreis muss man im Auge haben, um die Widerstandsfähigkeit der Kinder und der Familien zu stärken“, bestätigt von Hofacker. „Denn in der Schule und im Alltag unserer Kinder haben das Spielerische und Kreative, das uns psychisch stabil macht, zunehmend keinen Platz mehr. Unsere Gesellschaft sollte sich über diese fatale Entwicklung und ihren sich ständig beschleunigenden Leistungsdruck bewusst werden.“ Ob sie heute schon wieder lachen kann über ihre Angst vor dem Verschlucken? „Nein, noch nicht“, antwortet Ophira. „Da habe ich mich schon sehr stark erschrocken, das war nicht schön für mich.“ Doch dann legt sich ein leichtes Grinsen auf Ophiras Gesicht: „Über manche Dinge, wie über Saft und Joghurt kann ich schon wieder lachen, dass ich die nicht essen wollte. Aber damals war es eben schwierig für mich. Aber jetzt weiß ich, dass ich und andere mir helfen können.“ Und noch etwas hat das Mädchen hier gelernt: „Eigentlich kann ich ja nicht richtig was dafür.“ *Name geändert Michael Backmund
Therapieangebote: Hier bekommen Familien Hilfe
Infos und Anmeldung:
Klinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik am Klinikum Harlaching: Telefon 089/ 62 10-33 39 oder über www.klinikum-muenchen. de im Netz.
Heckscher-Klinikum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie: Telefon 089/99 99–0 oder www.heckscher-klinik.de
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität München: Telefon 089/51 60-59 31
Koordinationstelle Psychotherapie der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern: Telefon 089/570 93 43 88.