Sexsucht: So leiden die Betroffenen

Der Fall der toten Nymphomanin Antje C. lenkt den Blick auf ein Leiden, das mit Lust nichts zu tun hat. Warum es immer mehr dramatische Fälle gibt.
Matthias Maus/Irene Kleber |
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Wenn Sex zur Sucht wird hat das nichts mehr mehr mit Lust zu tun.
dpa/Symbolbild Wenn Sex zur Sucht wird hat das nichts mehr mehr mit Lust zu tun.

Die Nymphomanin von München – der Fall der Antje C., die sich täglich Männer ins Bett holte und die vor sechs Tagen tot in ihrer Wohnung gefunden wurde, elektrisiert die Stadt. Jetzt fand die Kripo Spuren von Heroin und Kokain im Körper der 47-Jährigen. Dennoch bleiben Fragen. Was ist das mit dieser Sex-Sucht? Ein tragischer Einzelfall? Ein Mythos? Keinesfalls, sagen renommierte Sexualtherapeuten. Sex-Sucht nimmt sogar zu.

Auch wenn einige Ärzte bestreiten, dass es die Krankheit überhaupt gibt: „Nymphomanie“ bei Frauen und „Satyriasis“ bei Männern steht im Klassifizierungssystem der Weltgesundheitsorganisation der Uno (WHO). Therapien über anerkannte Psychotherapeuten können über die Kassen abgerechnet werden.

Wo ist die Grenze?

Wobei es erste Aufgabe der Therapeuten ist, die Grenzen zur Krankheit zu ziehen. Als klassische Merkmale der Sucht gelten Machtlosigkeit, Besessenheit und der Einsatz als Schmerzmittel: „Die Grenze ist wohl da, wo der Sex nicht mehr lustvoll ist“, sagt die Münchner Sexual-Beraterin Gabriele Leipold. „Betroffene können sich kaum noch ihrer Arbeit oder ihrem Alltag widmen.“ Oft sei diese Sucht kombiniert mit anderen Süchten wie Alkohol oder Tabletten.

Auch Kurt Seikowski (57), Vorsitzender der Gesellschaft für Sexualwissenschaft, hat „ständig solche Fälle“. Entschieden tritt der Diplompsychologe einem Mythos entgegen: „Es geht nicht um Lust. Die Betroffenen suchen Bestätigung als Mann oder Frau“ – vergebens. „Die Menschen, die in Therapie kommen, leiden.“

Exakte Zahlen gibt es nicht, sagt Seikowski, der auch an der Uni Leipzig lehrt: „Ein Prozent der Frauen und sechs Prozent der Männer“ seien betroffen, schätzt Sexual-Beraterin Leipold. Umstritten sind die Ursachen und Gründe. Gabriele Leipold verortet sie in der frühesten Kindheit. Zu wenig Wärme, zu wenig Körperkontakt mit der Mutter könnten Defizite auslösen. „Je früher die Entwicklungsstörung stattfindet, desto extremer wirkt sie sich aus.“

Gibt es denn gar nichts, das Spaß macht?

Psychologe Seikowski kennt auch andere Ursachen: „Oft sind der Ausgangspunkt Depressionen.“ Für gewöhnlich geht Depression mit Lustlosigkeit einher. Es gebe aber auch andere Ausdrucksformen. In ihrer Welt voller Hoffnungslosigkeit fragen sich Depressive dann: „Gibt es denn gar nichts mehr, was schön ist?“ Und dann verfallen sie auf Sex. „Sexualität wird zur Ersatzbefriedigung“, erklärt der Fachmann und betont wieder: „Mit Lust und echter Befriedigung hat das nichts zu tun.“

Seikowski berichtet von einem 50-Jährigen, der sich über fünf Jahre lang per Annonce unterwürfige Frauen gesucht hat: „Er hat irgendwann gemerkt, dass sein Alltag nicht mehr funktioniert, und dass er es hauptsächlich mit Borderline-Persönlichkeiten zu tun hatte.“

Neben solchen Extremfällen beobachtet Seikowski einen Trend zur Selbstbeschäftigung sozusagen: „Immer mehr sitzen stundenlang vor dem Computer und masturbieren“, sagt er. Mit den allgegenwärtigen Porno-Seiten und einer Flatrate kostenlos und kein Problem – bis die Partnerschaft, der Beruf, der Alltag leidet. Für Cybersex-Exzesse seien nicht nur Männer anfällig: „Männer schauen Bilder und Filme, Frauen gehen in Chatrooms.“ Auch da kann man Tage und Nächte verbringen und sein Privatleben schrotten.

Über die Möglichkeiten der Therapie gehen die Ansichten auseinander: „Nur über die Psychoanalyse“, sagt die Münchner Sexual-Beraterin Leipold, sei Heilung möglich. „Da wird man wieder Kind, kann Traumata aufarbeiten.“ Sexualmediziner Professor Uwe Hartmann vom Institut für Klinische Psychologie an der Medizinischen Hochschule Hannover empfiehlt hingegen Verhaltenstherapie. Auch Kurt Seikowski ist optimistischer: „Ich habe noch allen helfen können“, sagt der Diplom-Psychologe. „Ein bis zwei Jahre, mit Sitzungen alle ein bis zwei Wochen“ reichten in der Regel aus. „Die meisten haben hohen Leidensdruck, die Erfolgsaussichten sind gut – auch bei schweren Fällen.“

Im Gegensatz zu anderen Suchterkrankungen besteht das Ziel einer Sexsucht-Therapie nicht darin, die Patienten zur Abstinenz zu erziehen. Vielmehr geht es darum, einen kontrollierten Umgang mit der eigenen Lust zu lernen. Schließlich ist Sexualität ein wichtiger Bestandteil des menschlichen Lebens.

 

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