Schwere Vorwürfe gegen die Stadt München: "Genötigt, gemaßregelt, gekündigt"
München - Wenn es um Diskriminierung am Arbeitsplatz geht, betont die Stadt München gerne ihre Vorreiterrolle. Schon vor 25 Jahren hat sie als eine der ersten öffentlichen Verwaltungen in Deutschland eine Dienstvereinbarung gegen Mobbing auf den Weg gebracht.
München ist Vorreiter - in der Theorie
Im Anhang der aktuellen "DV-fair" finden sich allein 14 Anlaufstellen, an die sich Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wenden können, wenn sie sich diskriminiert oder sexuell belästigt fühlen. "Sie müssen das nicht aushalten", lässt sich auch OB Dieter Reiter im Vorwort zitieren.
Soweit die Theorie. Der AZ liegen zwei Fälle von mutmaßlicher sexueller Belästigung und Mobbing vor, die die Frage aufwerfen, was Richtlinien und Anlaufstellen wert sind, wenn tatsächlich Diskriminierungen gemeldet werden.
Verstörende Erfahrungen in der Probezeit - Warum wurde Ines Schwab wirklich gekündigt?
Ines Schwab und Karl Müller (Namen geändert) haben im Oktober 2018 ihre neue Arbeitsstelle in einer IT-Abteilung angetreten und, nach eigener Aussage, verstörende Erfahrungen gemacht. Ines Schwab, 43, wurde in der Probezeit gekündigt, daraufhin strengte sie eine Kündigungsschutzklage an. Sie war der Meinung, ihre Kündigung sei unwirksam und sittenwidrig.
Die Arbeitsgerichte haben in zwei Instanzen zugunsten der Stadt entschieden, strafrechtlich ist der Fall bis heute anhängig: Ines Schwab stellte Anzeigen u.a. wegen sexueller Belästigung, übler Nachrede und Prozessbetrugs, die Stadt München zeigte sie ihrerseits wegen übler Nachrede an, vor dem Sozialgericht klagt Schwab seit einem Jahr auf eine korrekte Arbeitsbescheinigung.
Die Anwältin vertritt eine klare Auffassung
Ines Schwab ist überzeugt, dass "mir vor allem deshalb gekündigt wurde, weil ich einen Kollegen der sexuellen Belästigung bezichtigt und damit die Abteilung in Misskredit gebracht habe", sagt sie im AZ-Gespräch. Schwabs Anwältin hatte es in erster Instanz vor dem Arbeitsgericht so formuliert: "Wenn Frau Schwab mit dem Herrn ins Bett gestiegen wäre, säßen wir heute nicht hier."
Die Stadt München bestreitet alle Vorwürfe
Der Redaktion liegen Gerichtsdokumente und interne Schreiben vor, die Fragen aufwerfen zu den Umständen der Kündigung: Wurde die mutmaßliche Belästigung ordnungsgemäß untersucht? Hat die Stadt Dokumente nachbearbeitet, um die Frau loszuwerden? Die Stadt bestreitet alle Vorwürfe.
Ein komplizierter Fall
Der Fall ist kompliziert: Im Januar 2019 erklärt Ines Schwab ihrem Vorgesetzten, dass sie von einem Kollegen sexuell belästigt werde. Noch am selben Tag spricht der Abteilungsleiter mit dem Beschuldigten, der die Vorwürfe "glaubhaft abstritt", so steht es in der Klageerwiderung der Stadt München vom Juni 2019.
Der Vorgesetzte leitet den Fall weder an die Geschäftsführung noch an die zentralen Beschwerdestellen für sexuelle Belästigung (ZBSB) und nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) weiter, was er nach den Richtlinien hätte tun müssen.
Das steht im "Mobbingprotokoll"
Aus einem 50-seitigen "Mobbingprotokoll", das Schwabs Arbeitskollege Karl Müller über seine Zeit in der Abteilung verfasst hat, geht hervor, dass der Vorgesetzte auch mit ihm gesprochen habe. Müller bestätigte seinem Chef, dass er persönlich bezeugen könne, wie der Beschuldigte Ines Schwab immer wieder zu privaten Treffen zu überreden versuchte und die Kollegin ihm "mehrmals zu verstehen gegeben habe, dass sie kein Interesse hat". In der Klageerwiderung der Stadt dazu kein Wort.
"Ich würde dich sofort schwängern"
Weil nichts passierte, informierte Ines Schwab im März 2019, eine Woche nach ihrer formalen Kündigung, die AGG-Stelle. In ihrer Mail erklärt sie, von dem Arbeitskollegen "wiederholt sexuell genötigt" worden zu sein. Es sollen Sätze gefallen sein wie: "Ich würde dich sofort schwängern."
Mehrmals habe der Kollege von seiner kranken Frau erzählt und dass er schon lange keinen Sex mehr gehabt habe, so Schwab zur AZ. In der Abteilung sei sie nun "gemaßregelt und mit der Probezeitkündigung konfrontiert" worden, sagt Schwab.
Das sagt OB Dieter Reiter zu dem Fall
Auf AZ-Nachfrage schreibt Dieter Reiter im Januar 2022, dass die Beschwerdestelle für sexuelle Belästigung die Vorwürfe von Frau Schwab "umfassend geprüft" habe, der Vorwurf nicht bestätigt werden konnte. Bereits im November 2020 schrieb Reiter an Schwab, dass beide Beschwerdestellen ihre Vorwürfe "intensiv geprüft" hätten, in dem Brief vom Januar 2022 nimmt er das wieder zurück, eine AGG-Beschwerde habe es nicht gegeben.
Es wurden keine weiteren Mitarbeiter befragt
Das ist nachweislich falsch. Einblick in die ZBSB-Untersuchung wird Schwab bis heute verwehrt. In der Erwiderung der Stadt heißt es auch diesmal, der Beschuldigte habe "glaubhaft" berichtet, Frau Schwab "zu keinem Zeitpunkt körperlich oder verbal sexuell belästigt" zu haben.
Außer dem Beschuldigten wurden keine weiteren Mitarbeiter befragt, auch nicht Karl Müller, der die Belästigung zuvor bereits bezeugt hatte. Die betroffenen Stellen lehnten eine Stellungnahme ab.
50 Seiten Protokoll - zum eigenen Schutz
Ob die beiden städtischen Beschwerdestellen ZBSB und AGG ihrer Aufgabe gewachsen sind, bezweifelt Karl Müller, 47, angesichts seiner eigenen "Mobbingerfahrungen". Müller hat das umfangreiche Protokoll aus Vorsorge für sich selbst geführt.
Nach einem Abteilungswechsel beklagt er im Juli 2020 gegenüber der AGG-Stelle, dass er sich "im Stich gelassen" fühle. Nach Monaten ohne Einarbeitung mache er sich Sorgen um eine negative Beurteilung.
Willkürlichem Verhalten ausgesetzt
Er verweist auf Schwab, die "falsch eingearbeitet, genötigt, gemaßregelt und gekündigt" worden sei. Zur AZ sagt Müller: "Er war dem willkürlichen Verhalten von Kollegen und Vorgesetzten ausgesetzt."
Aussage gegen Aussage - ohne Untersuchung
In der Mail wird bestätigt, "dass es an Ihren ehemaligen Dienststellen (...) Konflikte gab", aber die Personen, die man befragt habe, "waren von Ihren Vorwürfen überrascht". Wie im Fall Schwab: Aussage gegen Aussage, offenkundig keine Untersuchung.
Die Beschwerdestelle wollte sich nicht äußern. Laut Müllers Protokoll ist dem Personalrat und Teilen der Geschäftsführung "das Problem mit dem Betriebsklima" seit langem bekannt.
Keinerlei "strukturierte Einarbeitung" für Schwab
Warum wurde Ines Schwab gekündigt? Aus dem Protokoll eines Personalgesprächs mit ihrem Vorgesetzten vom Januar 2019 geht hervor, dass ihr erst an diesem Tag, also dreieinhalb Monate nach Jobantritt, ein Aufgabengebiet konkret zugewiesen wurde. Aus dem Kontext wird deutlich, dass es keinerlei "strukturierte Einarbeitung" gegeben hat, wie in der Stellenanzeige ausgeschrieben.
Verwirrende Begründung
Anfang März 2019 schreibt der Vorgesetzte in einem Vermerk, "dass die Probleme mit Frau Schwab nicht bzw. nicht ausschließlich im fachlichen Bereich liegen". Keine zwei Wochen später kündigt er ihr, weil sie "nicht die fachlichen Anforderungen" erfülle.
Um die Verwirrung komplett zu machen, wird Schwab drei Monate nach ihrer Kündigung vom Personalreferat zu einer internen Fortbildung eingeladen. Die Arbeitsagentur wertet das als Rücknahme der Kündigung und schickt sie zur Schulung.
Die Stadt verpasste die Frist vom Gericht
Der Fall Schwab ist noch irritierender: Bei einer Güteverhandlung der ersten Instanz forderte das Arbeitsgericht beide Parteien auf, ihre Sachvorträge bis Juli 2019 zu substanziieren. Bei Versäumnis drohe die Partei im Rechtsstreit zu unterliegen, so das Gericht.
Über zwei Monate nach der Frist legte die Stadt erstmals alle schriftlichen Unterlagen zur Schwab-Kündigung vor. Darunter ein Schreiben mit Datum vom 12. März 2019, in dem der Gesamtpersonalrat zur Stellungnahme von Schwabs Kündigung aufgefordert wird.
Eine unmögliche Stellungnahme
Auf der ersten Seite der Anlage des Schreibens wird der "Kündigungsvorgang (Blatt 1-41)" erläutert. Blatt 41 ist die Stellungnahme des Gesamtpersonalrates, der der Kündigung ordnungsgemäß zustimmen muss, damit sie rechtswirksam ist. Nur: Der Gesamtpersonalrat hat erst am 13. März getagt. Wie konnte die Stellungnahme schon am 12. März vorgelegen haben?
Widersprüche, Ungereimtheiten, seltsame Zeitpunkte
Stutzig macht die Zeugenaussage der Gesamtpersonalrätin Ursula Hofmann in der Berufungsverhandlung vom Mai 2020. Hofmann liest aus der Kündigungsverfügung vor, die sie am 12. März erhalten haben will. Das Gericht moniert, dass ihm eine andere Version vorliege, eine, in der die Stellungnahme des Gesamtpersonalrats bereits angehängt ist.
Frau Hofmann erklärt, das Personalreferat könne nicht wissen, ob der Gesamtpersonalrat Bedenken äußere, die Prozessbevollmächtigte der Stadt wird mit den Worten zitiert: "Möglicherweise wurde etwas copy paste verwendet." Für Schwabs Anwältin Ricarda Gerlach war damit klar, der Gesamtpersonalrat wurde nicht ordnungsgemäß gehört, was "zur Unwirksamkeit der Kündigung" führe.
Auch stelle sich die Frage, so Gerlach im Sitzungsprotokoll, warum die Verfügung erst so spät vorgelegt wurde, ob sie nachbearbeitet werden musste, um die Vorwürfe der Stadt zu erhärten. Ursula Hofmann wollte sich nicht dazu äußern.
Absurder Aufwand der Stadt München
An den Monate später eingereichten Unterlagen ist der absurde Aufwand augenfällig, den die Stadt München betreibt, um mit einem 40-Seiten umfassenden Anhang zu belegen, warum eine Mitarbeiterin ihre Probezeit nicht besteht. In einer "Checkliste" wird erklärt, Ines Schwab, Diplom-Mathematikerin mit Programmiererfahrung, würde Hilfe benötigen beim Rauf- und Runterfahren eines Computers.
Strafrechtlich relevant wird es, wenn das Protokoll eines Personalgesprächs vom Dezember 2018 mit ihrem Vorgesetzten auf einmal nicht mehr zwei DIN A4-Seiten hat - sondern vier. Jetzt mit allerlei kritischen Anmerkungen ihres Vorgesetzten.
In der Checkliste vom Dezember 2018 wird ihr Vorgesetzter mit dem Satz zitiert, das Verhalten von Frau Schwab habe sich "in der Folge (d.h. bis Februar 2019) nicht gebessert". Wie geht das?
Die Berufung interessiert sich nicht für die Widersprüche
Auch die Berufung interessierte sich nicht für die offensichtlichen Widersprüche einer einfachen Probezeitkündigung, bei der der gesetzliche Kündigungsschutz nicht greift. Und doch: In Schwabs Personalakte bei der Stadt findet sich seitdem eine Kündigungsverfügung, die jetzt auf den 14. März 2019 datiert ist.
Ist der Stadt aufgefallen, dass es so nicht gewesen sein kann, wie sie bis heute behauptet? Am 13. März 2019, keine 90 Minuten nachdem der Gesamtpersonalrat Schwabs Kündigung zugestimmt haben soll, wird im Intranet der Stadt München ein Leitfaden zu "Probezeitkündigungen" begonnen.
Dort heißt es, die zuständige Abteilung solle "Willkür" ausschließen, um "dem Anspruch der Landeshauptstadt München als soziale Arbeitgeberin zu genügen". Auf Nachfrage bleibt OB Reiter dabei, die Kündigung sei ordnungsgemäß erfolgt, nachgebesserte Dokumente ihm nicht bekannt.