Richard Oetker über seine Entführung: "Ich war und bin Optimist"
Wie stellt man sich einen Mann vor, der als 25-jähriger Student nach einer Vorlesung entführt, in eine Kiste gesperrt und mit einem perfiden Folterinstrument misshandelt wird, das durch einen Stromschlag mehrere Knochen in seinem Körper bricht? In sich gekehrt? Schreckhaft? Launisch? Gebrochen?
Wenn Richard Oetker vorher gewusst hätte, was in den nächsten 47 Stunden auf ihn zukommt, dann hätte er gesagt, er schaffe das nicht. „Aber wir Menschen halten viel mehr aus, als wir denken“, sagt er nun im Seehaus bei einer Veranstaltung der Stiftung „Weißer Ring“, der er vorsitzt. Der Verein unterstützt seit 1976 Kriminalitätsopfer und deren Familien.
Erst vor zehn Jahren redete Richard Oetker (64) das erste Mal öffentlich über den 14. Dezember 1976 – den Tag seiner Entführung. Auch heute, knapp 40 Jahre danach, ist das Interesse an seiner Geschichte groß. Bescheiden gibt er zu, dass er sich darüber wundert, in der Zwischenzeit sei „ja doch viel Schlimmeres passiert“.
Seinem Entführer nennt Richard Oetker "Checker"
Im Seehaus erzählt er aufgrund seiner Gehbehinderung, eine Folge der Entführungsfolter, sitzend seine Geschichte. Überraschend offen, gelöst und mit einer Portion Humor teilt er seine Erfahrungen mit anwesenden Mitgliedern und Unterstützern der Stiftung. Vor ihm liegt keine vorbereitete Rede, es steht nur ein Wasserglas auf dem Tisch. Die Erinnerungen an den Dezemberabend sind noch immer lebhaft, abzulesen gibt es nichts.
Als der damals frisch verheiratete Student für Brau- und Agrarwissenschaften in sein Auto steigen wollte, bedrohte ihn sein maskierter Entführer, ein arbeitsloser Münchner. Er befahl ihm, in eine Kiste zu steigen, die sich im Inneren seines Lieferwagens befand. „Ich war damals 1,94 Meter groß und lag gekrümmt wie ein Embryo im Mutterleib in der maximal 1,44 Meter langen und einen Meter hohen Kiste“, erinnert sich Oetker. Eine Zuhörerin schlägt erschrocken ihre Hand vor den Mund. Im nächsten Moment schmunzelt sie über Oetkers Galgenhumor. „Ich wollte wissen, wie mein Entführer heißt. Er sagte, dass ich mir einen Namen für ihn ausdenken soll. Also habe ich ihn nach einem Freund von mir benannt, mit dem ich in meiner Jugend viel Mist gebaut habe: ,Checker’.“ Den richtigen Namen seines Peinigers, der ihm während der Entführung nur verkleidet mit einer Schweinemaske gegenübertrat, erwähnt er selten.
Während er erzählt, fühlt sein Publikum mit. In einem Moment stöhnen die Gäste auf, wenn Oetker erzählt, wie ihm nach seiner Rettung aufgrund seiner erheblichen Lungenverletzung die Knie ohne Verabreichung eines Narkosemittels durchbohrt werden mussten, um die Brüche zu verarzten. Kurz darauf wird wieder gelacht, weil er lebhaft schildert, wie ihn die Ärztin während der Behandlung fragte, wie es ihm gehe – und er darauf antwortete: „Naja, wie man sich so fühlt, wenn einem gerade die Knie durchbohrt werden.“ Oder als er ausgesetzt in einem Waldstück im Auto darauf wartet, von der Polizei gefunden zu werden und sich die Zeit mit Weihnachtsmusik, die im Radio läuft, vertreibt.
Bis zur Verurteilung des Täters war jeder Mensch in seinem Umfeld ein Verdächtiger
Eines unterstreicht Richard Oetker aber immer wieder: „Ich war und bin immer noch ein Optimist.“ Obwohl er gefesselt in der Holzkiste lag und einen Stromschlag erlitt, der mutmaßliche Entführer öffentlichkeitswirksam seine Unschuld beteuerte und damit durch die TV-Landschaft tingelte. Obwohl ihm die Ärzte keine hohen Überlebenschancen attestierten oder die Polizei ihn darauf hinwies, dass bis zu einer Verurteilung des Täters jeder in seinem Umfeld verdächtig ist – auch Familienmitglieder.
Ob selbst ein großer Optimist wie er seinem Entführer verzeihen kann? „Dieser Mann hat wochenlang mein Schicksal vorgeplant. Das ging mir zu weit, denn dann kann man ja gleich jedem alles vergeben.“ Es folgt ein langer Applaus.
Richard Oetker lächelt und verlässt das Seehaus – aufrecht und ohne Krücken.
- Themen:
- Polizei