Rentnerin soll Wohnung räumen: "Das pack' ich nimmer"
Rosa Stock kann es nicht fassen: „Wo soll ich denn hin?“. Die 90-Jährige soll aus ihrer Wohnung im Westend ziehen – obwohl sie seit 70 Jahren in dem Haus wohnt.
Westend - Am 3. Mai hatte Rosa Stock ihren 90. Geburtstag. Doch zum Feiern war ihr nicht zumute. „Ich weiß nicht, was werden soll“, sagt sie. Am Montag wird die alte Dame zum ersten Mal in ihrem Leben vor Gericht erscheinen. Denn sie soll aus dem Haus raus, in dem sie seit 71 Jahren wohnt und aus der Wohnung, in der sie seit 54 Jahren lebt. Für Frau Stock die reinste Katastrophe: „Das pack‘ ich nimmer. Das hier ist doch meine Heimat. Wo soll ich denn hin?“
Rosa Stock wohnt in der obersten Etage eines Mietshauses im Westend, auf rund 50 Quadratmetern. Auf dem gleichen Stockwerk daneben ist noch eine kleinere Wohnung. Ihr Vermieter, der das Haus seit 2001 besitzt, will die Wohnung von Rosa Stock mit der Nebenwohnung zusammenlegen, dazu den Speicher mit ausbauen – zu einer Dachgeschosswohnung von 71 Quadratmetern.
Der Kündigungsgrund ist „Hinderung an einer angemessenen wirtschaftlichen Verwertung des Grundstücks“. Dagegen steht die soziale Härte, einer 90-Jährigen mit kleiner Rente die Wohnung zu kündigen.
Mit ihren 900 Euro Rente, die sie nach vielen Jahren als Bedienung bekommt, kann Rosa Stock sich eine gleichwertige Wohnung auf dem heutigen Mietmarkt nicht leisten. Ganz abgesehen davon, dass ein Umzug aus ihrer vertrauten Umgebung sie gesundheitlich und nervlich an ihre Grenzen brächte.
Schon die Ungewissheit raubt ihr zurzeit den Schlaf. „Nie hätte ich gedacht, dass so etwas mal über mich kommt“, sagt sie. Nur weil sie über den Mieterverein rechtsschutzversichert ist, kann sie sich nun mit einer Anwältin wehren.
Rosa Stock hat ihr Leben im Westend verbracht. Sie ist in der Kazmairstraße geboren, mit 19 Jahren zog sie mit ihren Eltern ins Haus in der Bergmannstraße. Das war 1940. Sie erlebte dort den Krieg, wurde ausgebombt und kehrte wieder zurück. 1957 zog Stock nach dem Tod ihrer Eltern zwei Etagen höher – da wohnt sie noch immer.
Hier sind all ihre Erinnerungen. An der Wand hängt ein Bild von ihrem Bruder in Uniform, der in „Russland geblieben“ ist, wie sie sagt. Hier hat sie ihn zum letzten Mal gesehen, als er auf Fronturlaub war. „Ich weiß noch genau, da vorne, Bergmannstraße Ecke Landsberger Straße, da hat er uns nochmal zugewunken“, erzählt die alte Dame und entschuldigt sich, dass sie so gerührt ist. „Das ist so lange her, ich weiß schon – aber das vergisst man nicht.“
Sie hat keine Kinder oder andere Angehörige, die sich um sie kümmern. Jetzt, im hohen Alter, findet ihr Leben fast nur noch im Viertel statt. Zwei Nachbarinnen von gegenüber helfen ihr, wenn sie etwas braucht. Der Lottomann bringt ihr die Getränke.
Im Januar wurde sie an der Schulter operiert, danach kam eine Freundin immer zu ihr und hat sie gebadet. Daheim, wo sie sich am wohlsten fühlt. Dass sie hier weg soll – für die alte Dame unvorstellbar.
Schlecht über ihren Vermieter spricht Rosa Stock nicht. „Wir sind immer gut ausgekommen. Menschlich kann ich da nix sagen. Aber dass er mir jetzt kündigt, damit er eine große Wohnung bauen kann, das ist schon ein dicker Hund.“
Der Vermieter argumentiert in der Räumungsklage, dass die Wohnungen im Stockwerk „nicht dem üblichen Standard“ entsprechen, der Dachspeicher „stark sanierungsbedürftig“ und die „Statik nicht gewährleistet“ sei.
Die Miete ist niedrig, 250 Euro warm. Jahrzehntelang wurde sie nicht erhöht. „Wenn man in kleinen Schritten erhöht hätte, hätte Frau Stock die Möglichkeit gehabt, rechtzeitig beim Wohnungsamt Wohngeld zu beantragen“, sagt ihre Anwältin. Der Hausbesitzer hat ihr eine Ersatzwohnung in der zweiten Etage angeboten. Die kostet aber 730 Euro warm. „Das kann ich ja niemals zahlen“, sagt Stock.
Eine Abfindung, wie es Anwälte in solchen Fällen manchmal erstreiten, brächte ihr nur etwas, wenn sie auch die Ersatzwohnung bekäme. Wenn ihr der Hausbesitzer also bei der neuen Miete entgegenkäme. „Dann müsste ich zwar auch umziehen – aber dann könnte ich hier im Haus bleiben. Das wäre mein schönstes Geburtstagsgeschenk.
Was zählt: Eigentumsrecht oder soziale Härte?
das Gericht wägt ab - zwischen dem Profit des Besitzers und der Notlage des Mieters
Der 90-Jährigen Rosa Stock soll die Wohnung wegen „Hinderung an einer angemessenen wirtschaftlichen Verwertung des Grundstücks“ gekündigt werden. „Das wird in München immer häufiger als Kündigungsgrund herangezogen“ erklärt die Münchner Rechtsanwältin Silke Ackermann. „Das ist ein typischer Trend in München. In anderen Städten spielt dieser Kündigungsgrund kaum eine Rolle.“
Meist beziehen sich Hausbesitzer dabei auf das ganze Haus, in dem ein „Altbestand“ an Mietern ist. Sind in solchen Häusern zum Beispiel nur Etagentoiletten, ist das Haus gar baufällig und kann der Besitzer so nur Mieten weit abseits der üblichen Sätze erzielen, bekommen die Hausbesitzer Recht: Sie dürfen den Mietern dann kündigen. „Wir erreichen dann aber durch den Mieterverein bereits vor einem Rechtsstreit Abfindungen“, sagt Ackermann, die sich auch im Mieterverein München engagiert.
Auch bei Rosa Stock argumentiert der Vermieter, dass das Dachgeschoss „stark sanierungsbedürftig“ sei, die Statik nicht gewährleistet sei und die Wohnung dem „üblichen Standard“ nicht mehr entspreche. Anwältin Ackermann sagt: „Ein Sonderfall ist die Klage insofern, als dass es nicht um das ganze Haus geht. Denn die unteren drei Stockwerke sind bereits renoviert, dort werden also schon höhere Mieten erzielt.“
Das Recht des Vermieters wird durch das Grundgesetz eingeschränkt: Dort ist eine Sozialbindung des Eigentums festgeschrieben. Da heißt es: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“
Rechtsanwältin Silke Ackermann beruft sich bei Rosa Stock auf einen sozialen Härtefall. Sie hat eine kleine Rente, sie ist sehr alt und ihr Leben lang in dem Viertel verwurzelt. Am Montag kommt die Räumungsklage in München vor Gericht.
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