Klavier schwebt hoch über München: Was hinter dem rebellischen Akt in luftiger Höhe steckt

Im Werksviertel in München gastiert ein fliegender Pianist. Jeden Morgen spielt er ein Konzert. Auch dann, wenn niemand zuschaut. Es ist ein rebellischer Akt, mit dem Künstler für ein Konzerthaus auf dem Areal kämpfen.
Maximilian Härtwig |
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Kopfüber schwebt Alain Roche über dem Werksviertel – und spielt dabei ein Klavierkonzert.
Kopfüber schwebt Alain Roche über dem Werksviertel – und spielt dabei ein Klavierkonzert. © Sigi Müller

München - Tag 42. Über dem Werksviertel schwebt ein Mann und spielt Klavier. Vertikal hängt er in der Luft, gut zehn Meter trennen ihn vom Boden. Das Klavier schwebt ebenfalls: vor ihm, aber gleichzeitig auch über ihm, und wenn eine Windböe aufkommt, schaukeln sie gemeinsam nach rechts oder links. Es ist eine Frage der Perspektive.

Der Mann heißt Alain Roche, kommt aus der Schweiz und ist Pianist. Dicke Winterjacke, robuste Arbeitshosen, graue Bartstoppeln – er sieht wie ein Bauarbeiter aus, nicht wie ein Pianist. Jeden Morgen wird Roche mit seinem Klavier an einem Baukran befestigt und in die Höhe gezogen. Dann spielt er kopfüber ein Konzert. Heute beginnt es um 6.43 Uhr und endet um 7.28 Uhr.

Definitiv schwindelfrei: der Pianist Alain Roche.
Definitiv schwindelfrei: der Pianist Alain Roche. © Sigi Müller

Diese exakten Zeitangaben wirken pedantisch. Martina Taubenberger, promovierte Kulturmanagerin und Leiterin des Projekts "When the sun stands still", versucht sich an einer Erklärung. Sie ist ziemlich kompliziert. Verkürzt gesagt: Anfang und Ende hängen von der elliptischen Umlaufbahn der Erde ab, täglich verschieben sich die Zeiten. Nach dem letzten Konzert, im Juni, wird Roche genau 182 Auftritte absolviert haben, von Sonnenwende bis Sonnenwende. Mittlerweile ist er bei Tag 42.

Das schwebende Klavier im Werksviertel in München – kein Konzert, sondern ein Ereignis

90 Minuten vor dem Konzert. Der Aufbau läuft routiniert: Stühle werden aufgeklappt, Kabel ausgerollt, Kopfhörer bereitgelegt. 15 Helfer sind dafür angestellt, drei pro Tag. Fast alle von ihnen Künstler. Taubenberger zählt auf: "Lichtkünstler, Konzeptkünstler, Tänzerinnen, Kostümbildnerinnen. Wir hatten auch schon Studenten, aber denen war es irgendwann zu früh oder zu kalt. Künstler sind anders, die ziehen durch." Selbst die Kranführerin, Andrea, ist eigentlich Tanzpädagogin.

An ihrem Gürtel baumelt eine Apparatur, die wie eine überdimensionierte Spielkonsole aussieht, mit zwei Steuerknüppeln und mehreren Knöpfen. Später wird sie Roche damit lenken. Als Tanzpädagogin liegen Baukräne außerhalb ihrer beruflichen Expertise. Deshalb musste sie eine eintägige Ausbildung absolvieren. "Ich mache gerne Luftakrobatik, das hat schon irgendwie zum Projekt gepasst." Die Stühle sind aufgebaut. 80 Besucher werden heute erwartet, ein überdurchschnittlicher Wert. Aber eigentlich ist das egal. Roche spielt immer. Auch wenn niemand kommt. Auch bei Sturm, dann eben in seinem Container. "Das ist kein Klavierkonzert", sagt Taubenberger. "Das ist ein Ereignis. Und das Publikum darf Zeuge davon werden."

Konzert von Alain Roche: Baustellengeräusche und Natursounds – all das kann Musik sein

Taubenberger hatte Roche schon 2020 nach München gelotst. Damals baute er Geräusche von Baustellen in seinen Auftritt ein. Jetzt sind es Natursounds von 32 Orten in ganz Bayern – der Zugspitze, einem Moor bei Heilbrunn, dem Bayerischen Wald. Sie werden live eingespielt; der Zuschauer hört eine Mischung aus Roches Klavier und plätschernden Flüssen in Elmau. Roche hat die Mikrofone selbst dort aufgestellt, zusammen mit Soundingenieur Pablo, der lieber Soundkünstler genannt werden möchte. "Die Natur Bayerns ist unser Orchester", sagt Taubenberger. "Alles, was wir machen, wird von der Natur gesteuert."

Kranführerin Andrea steuert Alain Roche und sein Klavier. Eigentlich ist sie gelernte Tanzpädagogin.
Kranführerin Andrea steuert Alain Roche und sein Klavier. Eigentlich ist sie gelernte Tanzpädagogin. © Sigi Müller

Gegen Bürokratie ist aber selbst die Natur machtlos: Auf der anderen Seite des Platzes betreten die ersten Besucher den Platz. Sie kommen durch ein Tor, das verschlossen sein sollte und spazieren genau unter dem Kran hindurch. Das verstößt gegen Sicherheitsvorkehrungen. Nachdem Taubenberger hektisch eine Mitarbeiterin anweist, die Zuschauer umzulotsen, erzählt sie von "bürokratischen Alpträumen", die so ein Projekt mit sich bringt: "Es ist in behördlichen Auflagen nicht vorgesehen, Menschen an Kränen aufzuhängen." Bis sie die Genehmigung für ein "Hochziehbares Personenaufnahmemittel" bekamen, dauerte es.

Gegen die CSU – und für ein neues Konzerthaus im Münchner Werksviertel

Das Durchhaltevermögen hat sich gelohnt – und soll als rebellischer Akt verstanden werden: gegen das Vorhaben der CSU, aus dem geplanten Konzerthaus im Werksviertel einen kostengünstigeren Konzertsaal zu machen. Das Haus würde 1,3 Milliarden Euro kosten. Zu viel, finden manche. Taubenberger sieht das anders: "Wir brauchen im Werksviertel das Konzerthaus. Dafür machen wir kulturpolitischen Aktivismus. 182 Tage. Am Kran."

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Heute sind knapp 80 Besucher gekommen, um dem kulturpolitischen Aktivismus beizuwohnen. Sie nehmen die Kopfhörer und verschwinden in blauen Liegestühlen, hinter dicken Winterjacken und Decken. Um genau 6.43 Uhr wird Roche nach oben gezogen. Kopfüber hängt er in der kalten Februarluft, vor ihm das Klavier. Man könnte meinen, der Mond hätte sich zu einem gelben Schlittschuh verformt. Dann schlägt Roche die Tasten an.

Blaue Liegestühle in der Blauen Stunde: Auf diesen Plätzen verfolgen die Besucher das Konzert.
Blaue Liegestühle in der Blauen Stunde: Auf diesen Plätzen verfolgen die Besucher das Konzert. © Sigi Müller

Mit einer erstaunlichen Klarheit dringt die Musik ins Ohr, nach kurzer Zeit mischt sich Wasserplätschern dazu. Ist das der Fluss in Elmau? Die Melodie wechselt: Erst ist sie laut, dann leise, erst schnell, dann langsam. Auf dem rechten Kopfhörer rauscht der Wind, links schreit ein Uhu.

Mal sind die Sounds zuordbar, mal nicht. Irgendwann verschmilzt die Musik mit den Naturklängen, und während sich Noten und Geräusche immer wieder ändern, annähern und abstoßen, verfärbt sich der Himmel – aus Schwarz wird Blau, durchzogen von roten Streifen, die heller werden und schließlich jede Dunkelheit zurückdrängen. Als Roche um 7.28 Uhr stoppt, die Arme theatralisch zurückwirft und mit dem Klavier zu Boden gleitet, ist die Nacht verschwunden.

Das Publikum applaudiert und jetzt, im Lichteinfall, zeichnen sich viele junge Gesichter ab. Drei Schüler sind darunter, die schnell nach Schwabing müssen, den Beginn der ersten Stunde aber trotzdem verpassen werden. Einige Meter weiter sitzt Christine. Ihr Nachbar vermittelt hochziehbare Personenaufnahmemittel, und einer dieser Kräne steht nun auf dem schlammigen Boden des Werksviertels. Zahlen mussten sie nicht – jeder Besucher entscheidet selbst, ob er das Projekt unterstützen möchte.

Es kostet 800.000 Euro, finanziert von Stiftungen, auch vom Land Bayern. Weil ein Teil über Zuschauererlöse erzielt werden muss, hat Taubenberger ein Crowdfunding gestartet: Regenschirme, Fleecedecken, signierte CDs werden zum Verkauf angeboten. Für 6000 Euro kann man ein Privatkonzert buchen. Der entsprechende Käufer wird allerdings noch gesucht.

Alain Roche könnte es sich leicht machen – aber er liebt das Projekt

Während sich der Platz langsam leert, baut Roche ab. Das macht er selbst, genauso wie er auf die Zugspitze geklettert ist, um Mikrofone zu verlegen, und auf einmal wirkt die Handwerker-Analogie gar nicht mehr so abwegig. Sein Spiel ist harte, körperliche Arbeit, für das er täglich übt. Selbst zuhause hat er sein Klavier vertikal aufgebaut. Kein Konzert ist gleich. "Jeden Tag ändere ich einen Part der Komposition. Beeinflusst von der Blauen Stunde, dem Wetter, den Geräuschen." Es gehe darum, die Veränderung der Natur musikalisch einzufangen. "Asketisch-meditativ-existenziell", so Taubenberger.

Alain Roche spielt in die Morgendämmerung hinein – beobachtet von knapp 80 Zuschauern.
Alain Roche spielt in die Morgendämmerung hinein – beobachtet von knapp 80 Zuschauern. © Sigi Müller

Roche hätte es sich leicht machen können: ein zweiwöchiger Auftritt im August, immer um 15 Uhr, die Beine auf dem Boden. Aber er will Transformationen abbilden, hineinspielen in das aufgehende Licht, wenn der Winter zum Sommer wird, die Nacht zum Tag. Sechs Monate lang, jeden Morgen, kopfüber. Ob er manchmal lieber weiterschlafen würde? Roche lacht. "Nein, ich stehe gerne auf. Ich liebe dieses Projekt." Jetzt, nach dem Konzert, wird er kochen, zwei Stunden schlafen, nachmittags Klavier proben. Tag 42 ist geschafft. Es warten noch 140.

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  • tma am 18.02.2024 18:37 Uhr / Bewertung:

    "Es ist ein rebellischer Akt, mit dem Künstler für ein Konzerthaus auf dem Areal kämpfen."
    Was soll daran rebellisch sein, mutmaßlich ist dieser Versuch auf die Notwendigkeit eines Konzertsaales hinzuweisen sogar mit dem Kreisverwaltungsreferat abgesprochen. Entweder befolgt der Autor zu strikt die Regel "zu jedem Namenwort ein schönes Wiewort" oder/ und er sollte über Lenins These nachdenken „Wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich erst eine Bahnsteigkarte!“ bevor er mit solchen Adjektiva herumwirft.

  • Der wahre tscharlie am 18.02.2024 16:34 Uhr / Bewertung:

    Ich finde das absolut fantastisch! Alleine das Klangerlebnis von einem Klavier in Verbindung mit Naturgeräuschen.
    Entfernt erinnert es mich an die "Einstürzenden Neubauten", die auch mit verschiedenen Klangelementen experimentierten.

  • Fluxxus am 18.02.2024 12:38 Uhr / Bewertung:

    München hat sich im Laufe der Jahrzehnte ja immer mehr in Richtung kulturelle Provinz entwickelt. Etwas mehr architektonische Extravaganz im Dienst von Musik und Kunst würde der Stadt m.E. ganz gut stehen und ihre Attraktivität gegenüber anderen Metropolen hervorheben. Dass ein neuer Konzertsaal sündhaft teuer sein würde, muss man dann schon akzeptieren oder es bleibt bei der provisorischen Isarphilharmonie, deren Akustik zwar hörenswert ist, als Prestigeobjekt aber nicht so viel taugt.

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