Ralf Marthaler: Der Mann, der Münchens letzte Weinstube mit Herz führt

In einer Serie stellt die AZ besondere Münchner Persönlichkeiten vor. Heute: Den Pfälzer Ralf Marthaler, der mit seinem Verein seit Jahrzehnten die letzte Weinstube bei der Residenz führt.
von  Moses Matthias Wolff
Als 23-Jähriger hat Ralf Marthaler zufällig die Pfälzer Weinstube entdeckt. Sie hat ihm geholfen, das Heimweh zu überwinden.
Als 23-Jähriger hat Ralf Marthaler zufällig die Pfälzer Weinstube entdeckt. Sie hat ihm geholfen, das Heimweh zu überwinden. © Moses Wolff

Es gab schon immer eine kulturelle und harmonische Verbindung zwischen Bayern und der Pfalz, von Mitte des 13. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts durch das Haus Wittelsbach geprägt. 1946 wurde dann das eigenständige Land Rheinland Pfalz gegründet, das waldreichste Bundesland, das Gebiet mit der niedrigsten Arbeitslosenquote und der höchsten Dichte an Weingütern.

Ankunft in der neuen Welt

Am 14. Oktober 1987 wurde ein 23-jähriger Mann namens Ralf Marthaler, gebürtiger Landauer und waschechter Pfälzer, der als Schüler manchmal in seiner Heimat "geherbstet", also bei der Weinlese gearbeitet hatte, samt ein paar Habseligkeiten vor einem Studentenwohnheim nahe dem Englischen Gartens von seinen Eltern abgesetzt. Da war er nun in dieser ihm völlig unbekannten Weltstadt mit Herz und fühlte sich furchtbar allein in seinem kleinen kargen Zimmer. Er ging also nach Einbruch der Dunkelheit auf die Straße und marschierte einfach mal los, kam auf eine große Straße namens Ludwigstraße und dachte sich: "Aha, das ist wohl die Hauptstraße."

Er schritt durch den kühlen Nebel und ließ seine Gedanken kreisen: War es die richtige Entscheidung gewesen, nach seinen zwei Semestern Jura in Heidelberg und erfolgreich bestandener Zwischenprüfung dieses Studienfach fortzusetzen?
Seine Interessen Film und Philosophie. Auf einmal strahlte aus großen Fenstern schummrig-schönes Licht in seine Augen, er las, was da auf der Leuchtanzeige stand: Pfälzer Weinprobierstube. Er konnte es kaum fassen, wie war das möglich?

Er atmete leise, stieg ein paar steinerne Treppenstufen hinauf, und stand in einem unglaublich schönen, großzügig angelegten, hohen Gewölbe, in dem sich unzählige Menschen auf anziehend gemütliche Art bei Wein und herrlich duftenden Speisen in äußerst sympathischer Geselligkeit aufhielten. Es kam ihm so vor, als ob sich all diese Leute kennen würden, sie sprachen über die Tische hinweg miteinander und der junge Pfälzer war wie verzaubert von dieser unaufgeregten und dennoch einnehmenden Pracht. Dieser erste Eindruck hat ihn nie wieder losgelassen. Der liebe Gott hat ihn also direkt nach seiner Ankunft in München an jenen Ort geführt, der sein Leben so bedeutsam prägen sollte.

Der Weg zum Vorstand

Marthaler erkundigte sich, welcher Wirt dieses außergewöhnliche Lokal betreibe und erfuhr, dass es gar keinen Wirt gebe, da die Weinstube dem Landesverband der Pfälzer unterstehe, also einem eingetragenen Verein. Um sicherzugehen, dass es sich hierbei nicht um einen revanchistischen Club oder Ähnliches handelt, sprach er einige Tage später mit dem Pfalzreferenten der Staatskanzlei, der ihm bestätigte, der Verein sei ehrwürdig und würde sich gewiss freuen, einen anständigen jungen Menschen aufzunehmen.

So geschah es dann auch, Marthaler trat ein und unterstützt dort unter anderem junge pfälzische Menschen während der Ausbildung. Er brachte sich mit ganzem Herzen ein und wurde 1998 als einer von drei Vorständen gewählt: Christoph Göbel ist bekanntlich der Landrat des Landkreises München und in der Weinstube zuständig für die Personalleitung, der Rechtsanwalt Hannes Suter betreut die Finanzen, und Ralf Marthaler zeichnet sich verantwortlich für die Gastronomie. Dann gibt es noch einen genialen Küchenchef, eine bezaubernde Betriebsleiterin sowie die beiden von allen geliebten Restaurantleiter Tutti und Roberto. Sie alle bilden eine wunderbare Einheit und ergänzen sich grandios.

"Wenn die Mitglieder mich wieder wählen, mache ich sehr gerne vier Jahre weiter", sagt er.

So kennen die Münchner ihre Weinstube. Das Bild ist aus dem Jahr 2009. Doch auch nach dem Umbau hat sie sich kaum verändert.
So kennen die Münchner ihre Weinstube. Das Bild ist aus dem Jahr 2009. Doch auch nach dem Umbau hat sie sich kaum verändert. © imago stock&people

Tradition und Gemeinschaft

Zweimal im Jahr fahren alle drei Vorstände für drei Tage in die Pfalz, um den Wein für die nächsten Monate einzukaufen. Auch die Bedienungen bilden eine stimmige Harmonie. Mindestgehalt ist garantiert, aber jede einzelne Servicekraft ist am Umsatz beteiligt. Das schafft hohe Motivation und Identifikation mit der Arbeitsstätte. Das Publikum besteht zu 90 Prozent aus Stammgästen, viele davon sind bereits im Ruhestand und lieben es, sich in den gemütlichen Gemäuern der Residenz bei einem Glas zu entspannen. Manchmal bilden sich Freundschaften, Gruppen oder Stammtische. Auch Einzelgäste sind gern gesehen. Besonders alleinstehende Damen schätzen das Gefühl der Sicherheit, heißt es.

Einzigartige Atmosphäre

Deshalb wird von Vorstandsseite aus großer Wert darauf gelegt, dass das Servicepersonal langärmlige, weiße Hemden und Krawatten trägt und somit ein traditionelles Bild gepflegter Gastronomie vermittelt.

In einer Weinstube wird logischerweise kein Bier ausgeschenkt, obwohl das ganz sicher den Umsatz erhöhen würde, jedoch hat man sich seit Anbeginn dagegen entschieden. Eine weitere Besonderheit des Hauses ist, dass es (fast) keinen Konsumzwang gibt. Wer stundenlang bei einem Glas sitzen möchte, darf das. Es gibt nur in Ausnahmefällen Reservierungen und keinerlei Zwang zum Essen. Dennoch ist alles gehoben und stilvoll. Fühlt ein Gast sich wie im heimischen Wohnzimmer und zieht sich die Schuhe aus, wird er gebeten, sie augenblicklich wieder anzuziehen.

Das Haus soll bürgerlich bleiben, so wird auch eine gewisse Kleiderordnung vorausgesetzt. Kürzlich saß mal ein Bursche da, der auf seinem T-Shirt einen arg obszönen Begriff stehen hatte. Man einigte sich höflich, dass die Weinstube nicht das richtige Lokal für ihn sei, reumütig und einsichtig zahlte er und ging woanders hin.

Und in welcher Gaststätte in München gibt es ein Butterbrot, das die Speisekarte anführt? Freilich gibt es überwiegend typische, authentische Pfälzer Gerichte von Saumagen über Krebbenetz, Bratwurst, Dampfnudel mit Salzkruste, Rindfleisch mit Meerrettichsauce oder den Verkaufsschlager Tatar, ergo Wein für jeden Geschmack zu stabilen Preisen. Klar findet man auf der Karte auch Elsässer Flammkuchen, der ja in der Pfalz gerne gegessen wird, sowie Gerichte aus der Oberpfalz.

Einmal ist ihnen hier aber ein Fehler unterlaufen: Ein Oberpfälzer Gast bemerkte nämlich, dass Oberpfälzer Brühwürste nicht wie angeboten mit Kartoffelsalat, sondern traditionell mit Sauerkraut und einer Scheibe Brot gegessen werden. Das wurde selbstredend umgehend auf der Karte geändert.

Besondere Angebote

Auch Ausgefallenes findet sich beim Studieren der Angebote, beispielsweise der Trollschoppen, das ist ein riesenhafter Römer-Pokal mit dem Fassungsvermögen eines Liters. Gefüllt wird es mit einer Flasche Rieslingsekt und einem Weißwein nach freier Wahl, auf Wunsch werden noch zwei Zitronenscheiben hineingegeben. Ähnlich wie bei der Goaßmaß wird das Glas dann reihum gereicht, also von einer Person zur nächsten "getrollt". Der Vorletzte muss die Troll-Runde bezahlen. Es ist nicht schwer zu erraten, dass sich einige Spezialisten hervorragend darin verstehen, niemals vorletzter zu werden.
Vor ein paar Jahrzehnten war der Alkoholverbrauch höher als heute, eine Zeit lang lag der Weinverbrauch in der Pfälzer Weinstube bei 300.000 Litern pro Jahr. Damals gab es noch sogenannte Schoppenstecher, die mittags Platz nahmen und abends angenehm angeheitert wieder ins Freie flanierten.

Umbauten und Verbesserungen

Es gab einige Umbauten, der letzte dauerte zweieinhalb Jahre, wo nur ein kleiner Gastronomiebereich mit wenig Tischen in der Residenz zur Verfügung stand. Während dieser Rohbauphase war der gesamte Fliesenboden weggerissen, man konnte vom Erdgeschoss bis in den Keller schauen. Nur die vier Säulen standen noch.

Es entstand eine barrierefreie Toilette und ein deutlich verbesserter Schallschutz. Früher klang es bei vollem Haus wie in einem Hallenbad oder Maschinenraum. Heute befindet sich unter nahezu jedem Tisch eine Akustikplatte, an den Wänden und hinter den Gemälden sind Akustikblenden mit Schall-Absorber, sämtliche Vorhänge, sogar die Kissen sind aus hochwertigem Akustikstoff, selbst die Decke ist schallgeschützt. Klar ist es immer noch manchmal laut, doch spätestens nach einem Viertel Wein legen sich die Geräusche wie eine Glocke um die Ohren.

"Nach dem Umbau standen die Menschen Schlange. Das Schönste, was sie uns sagten, war: Habt ihr in den letzten zwei Jahren hier wirklich umgebaut? Das ist doch alles wie immer hier."

Persönlicher Rückblick

Ralf Marthaler sitzt am liebsten in der Trifels-Stube, direkt neben dem Ausschank, an Tisch 22. In den 1980er Jahren, als er nach München zog, studierte er nach Abbruch seines Jurastudiums kurze Zeit Dokumentarfilm an der Filmhochschule, Philosophie und Pressewesen an einer katholischen Journalistenschule. Damals gab es in München etliche Weinstuben, badische, fränkische, württembergische, den Pfälzer Weinkeller am Dom oder die jene Weinstube in der Schönfeldstraße, in der der Monaco Franze seine legendäre Opernkritik formulierte und gegenüber dem arroganten Schönfärber Paroli bot.
Heute gibt es in München zwar Weinbars und Weinlounges, aber nur eine einzige echte Weinstube: die 1950 gegründete einstige Probierstube zwischen Hofgarten und Feldherrenhalle, die heute Pfälzer Residenz Weinstube heißt und eine Stätte pfälzisch-bayerischer Gemütlichkeit, Weinpflege und kultureller Begegnung ist.

Berufliche Vielfalt

Bevor der unverheiratete und kinderlose Marthaler in den Vorstand gewählt wurde, war er jahrelang bei den Landesmediendiensten Bayern tätig, wo er auch heute noch aktiv ist. 2012 schließlich fragte man ihn, ob er sich vorstellen könne, an der Hochschule für Philosophie Hausmeister zu werden.
Er sagte: "Wenn ich da keine Steckdosen austauschen muss, mach ich das gerne." Dort trägt er allerdings keinen Anzug und auch keine Krawatte, sondern eines Hausmeisters würdige Alltagskleidung.

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