Psychoanalytiker Dr. Werner Huth: "Es ist eine Überforderung, wenn Menschen zum Zölibat gezwungen werden"

München - AZ-Interview mit Dr. Werner Huth: Der Protestant, Jahrgang 1929, ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sowie Psychoanalytiker mit eigener Praxis in München. Er lehrte von 1973 bis 1991 an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten und hat neun Bücher geschrieben.
AZ: Herr Dr. Huth, einer, von dem man im Zusammenhang mit dem Münchner Missbrauchsgutachten immer wieder hört, war Anfang der 1980er Ihr Patient: Priester Peter H., der erst in Essen Kinder missbrauchte, daraufhin nach Bayern versetzt wurde - und nach kurzer Pause als Pfarrer in Grafing und Garching an der Alz einfach weitermachte. Wie erinnern Sie sich an ihn?
DR. WERNER HUTH: In der Diözese Essen wusste man, dass ich viel Erfahrung in der Behandlung von Sexualstörungen hatte. Deshalb hat man den Priester an mich überwiesen. Er war aber für eine Einzeltherapie ungeeignet, denn er war davon überzeugt, dass er zu Unrecht in eine Therapie geschickt wurde und hatte weder ein Unrechts- noch ein Krankheitsbewusstsein. Aber weil ja etwas mit ihm geschehen musste, habe ich ihn unter drei Bedingungen für eine Gruppentherapie angenommen.

Dr. Huth über den pädophilen Priester Peter H.
Welche Bedingungen waren das?
Erstens: Pfarrer H. darf nie wieder mit Jugendlichen arbeiten. Stattdessen sollte man ihn entweder in der Verwaltung, in einer Bibliothek oder in einem Altenheim beschäftigen. Zweitens: Da er glaubhaft behauptete, dass er seine Taten vor allem unter Alkoholeinfluss begangen hat, habe ich ihm zeitweilig ein Medikament verschrieben, das seinerzeit zur Unterstützung der Abstinenz bei Alkoholabhängigkeit viel verwendet wurde, Antabus. Herr H. hat sich aber auch daran nach kurzer Zeit nicht mehr gehalten. Drittens bestand ich darauf, dass er von der Kirche einen Betreuer zugeteilt bekommt. Ein inzwischen verstorbener Regionalbischof ist deswegen extra in seine Nähe gezogen. Wie ich hörte, hat er sich aber nicht um ihn gekümmert.
Ihre Einschätzung haben Sie an die Erzdiözese weitergegeben.
Natürlich! Später erstellte mein Kollege Johannes Kemper auf Anforderung des Gerichts in Zusammenarbeit mit mir ein schriftliches Gutachten, nachdem es ohne mein Wissen zu weiteren Missbrauchsfällen in H.s neuer Gemeinde gekommen war. 2010, als der Fall öffentlich wurde, stellte sich heraus, dass das Gutachten ebenso wie verschiedene Äußerungen von mir in der Personalakte des Pfarrers nicht mehr auffindbar waren. Ich habe dem damaligen neuen Generalvikar deshalb eine Kopie zugänglich gemacht.
Vorwurf der Nachlässigkeit gegen die Kirche
Wie erklären Sie sich all das?
Mit einer großen Nachlässigkeit, die damals in beiden Kirchen verbreitet war. In beiden neigte man dazu, unangenehme Vorgänge zu verschleifen und zu bagatellisieren, um weiter business as usual machen zu können. Dazu kam eine Art Wagenburg-Mentalität: Alles war darauf ausgerichtet, dass nichts nach außen dringt und der Schein gewahrt bleibt.
Der spätere Papst Benedikt XVI. war damals Erzbischof von München und Freising. In einer ersten Stellungnahme zum Gutachten der Kanzlei Westphal Spilker Wastl hat er abgestritten, an einer Sitzung teilgenommen zu haben, in der es um H. ging. Später musste er seine Anwesenheit doch zugeben. Angeblich waren Freunde, die ihm bei der Stellungnahme geholfen hatten, schuld an der falschen Darstellung. Hat der emeritierte Papst gelogen?
Zu einfach wäre es, wenn er gelogen hätte! Ich glaube, wir haben es mit etwas viel Tragischerem zu tun. Joseph Ratzinger war und ist zwar ein bedeutender Theologe. Aber alles, was mit Verwaltung zu tun hatte, war offensichtlich nicht so seine Welt. Dass jemand, der so ausgerichtet ist, eher etwas vergisst - etwa einen Routinevorgang wie die Versetzung eines Priesters in eine andere Diözese -, liegt auf der Hand. Etwas anderes kommt dazu: Es sieht so aus, als habe sich der damalige Erzbischof Ratzinger so sehr mit der Katholischen Kirche identifiziert, dass er alles zu deren Sicherung getan hat. Diese Identifizierung wurde auch offenkundig, als er sich vor den Missbrauchsopfern entschuldigen sollte.
Joseph Ratzinger: klug, aber kein normaler Bürger
Woran machen Sie das fest?
Joseph Ratzinger ist ein außerordentlich kluger Mann. Aber Menschen wie er tun sich oft schwer, unmittelbar auf andere zuzugehen. Sie sehen sich nur noch als Repräsentanten ihrer Institution. Daher ist es ihnen fast unmöglich, sich wie ein normaler Bürger zu verhalten und zum Beispiel zu sagen: "Ich habe damals etwas falsch gemacht, aber ich kann mich wirklich nicht mehr daran erinnern, vermutlich weil vieles für mich neu war. Bitte, glauben Sie mir! Das Ganze tut mir furchtbar leid, aber ich kann es nicht mehr ändern. Bitte verzeihen Sie mir! Ich kann nur noch das sagen, was Jesus den Pharisäern gesagt hat: Wer in seinem Leben noch nie seinem Nächsten etwas angetan hat, der möge den ersten Stein werfen."
Das vielbeachtete Gutachten listet knapp 500 Opfer und rund 240 mutmaßliche Täter auf. Wie konnte es so weit kommen? Es muss den Verantwortlichen doch klar gewesen sein, dass irgendwann alles ans Tageslicht gelangt. Wie lässt sich das in Zukunft verhindern?
Das sind zwei Fragen. Die erste lässt sich kurz beantworten. Ich habe wiederholt Pädophile untersucht. Keiner von ihnen hatte ein Unrechtsbewusstsein. Die zweite Frage, wie sich solche Untaten in der Kirche in Zukunft vermeiden lassen, liegt mir sehr am Herzen. Vor Jahrzehnten haben mich der Theologe Richard Egenter und der damalige Lehrstuhlinhaber für Klinische Psychologie, Albert Görres, gebeten, beim katholischen Beratungsdienst für Kirchliche Berufe mitzuarbeiten, der damals neu gegründet war.
Was der katholische Beratungsdienst leistet
Was ist darunter zu verstehen?
Dorthin konnte sich jeder wenden, der in einem geistlichen Beruf tätig war, wenn er Probleme mit dem Zölibat hatte oder zum Beispiel an Depressionen litt. Vor allem aber war der Beratungsdienst dafür gedacht, dass bei Menschen, die Nonnen oder Priester werden wollten, am Beginn ihrer Ausbildung die Eignung dafür geprüft werden sollte. Das Prinzip der Untersuchung war sehr einfach: Jeder Anwärter führte ein Gespräch mit je einem Psychologen, Psychotherapeuten und Theologen. Dann haben wir das Ergebnis um der Schweigepflicht willen in einer der Kategorien "geeignet", "bedingt geeignet" oder "ungeeignet" verdichtet und die anfragende Stelle entsprechend informiert. Hätte es den Beratungsdienst zu H.'s Berufsbeginn bereits gegeben, wäre er nie als geeignet durch ein solches Beratungsgespräch gekommen.
Wie kamen die angehenden Anwärter zu Ihnen?
Häufig wurden sie von Orden geschickt, die noch einen ordentlichen Zulauf hatten. Denn dort wusste man: Jemand, der für diesen Beruf ungeeignet ist, kann das Gemeinschaftsleben weitgehend lahmlegen. Orden oder Diözesen allerdings, bei denen sich nur wenige für einen dieser Berufe interessierten, haben uns kaum Leute geschickt, weil sie fürchteten, dann würden sie noch weniger Nachwuchs haben. Leider hat sich diese Form der Beratung in der Katholischen Kirche schon zu meiner Zeit weitgehend verlaufen und in der Evangelischen Kirche ist sie bald ganz eingeschlafen. Dabei sollte sie bei allen verantwortungsvollen Berufen selbstverständlich vorausgesetzt sein.
Über die Abschaffung des Pflichtzölibats
Seit dem Bekanntwerden des Missbrauchsgutachtens treten doppelt so viele Menschen aus der Katholischen Kirche aus wie vorher. Allein in München sind es 160 pro Tag. Der Mitgliederschwund war jedoch schon vorher ein Problem. Die dritte Synodalversammlung hat sich deshalb für Reformen ausgesprochen, darunter die Abschaffung des Pflichtzölibats. Was halten Sie davon?
Ich bin sehr dafür. Als Protestant und Mensch, der seit bald 65 Jahren mit seiner Frau glücklich verheiratet ist, ist mir der Gedanke an ein Zölibat fremd. Allerdings habe ich nicht nur in katholischen Klöstern, sondern etwa auch bei griechisch-orthodoxen Mönchen auf dem Berg Athos oder in tibetischen Klöstern erlebt, was es bedeutet, wenn Mönche oder Nonnen zölibatär leben. Gelingt es, dann ist es in vielerlei Hinsicht beeindruckend, nicht nur, weil es uns zeigt, was es bedeutet, ein Leben in völliger Hingabe zu führen.
Wie meinen Sie das?
Der große Sozialpsychologe Erich Fromm hat darauf hingewiesen, dass wir die erste total verweltlichte Zivilisation der Menschheitsgeschichte sind. In ihr wird unser Denken, wie Sigmund Freud sagte, zunehmend von Suppenlogik mit Knödelargumenten bestimmt. Durch diese Reduktion aufs Banale, Egoistische und Maßlose schaden wir uns aber nicht nur selber, sondern sind auch auf dem besten Weg, unseren Planeten in absehbarer Zeit kaputt zu machen. Die zölibatär lebenden Nonnen und Mönche dagegen leben in einer Gegenwirklichkeit zu unserer zunehmend "Geist-los" gewordenen Welt. Das ist wichtig für uns alle, denn es zeigt uns, dass der Mensch nicht bloß vom Brot allein lebt, wie es in der Bibel heißt. Allerdings setzt das voraus, dass jemand den Zölibat auch tatsächlich leben kann. Denken Sie zum Beispiel an die Gefahr der Vereinsamung bei einem Dorfpfarrer, oder an die Situation eines Großstadt-Pfarrers in einer durch und durch sexualisierten Umgebung. Unter diesen Umständen ohne große Schwierigkeiten zölibatär zu leben, ist oft nur schwer möglich.
Zuspruch für Kardinal Marx' Vorschlag
Was schlagen Sie also vor?
Es ist eine totale Überforderung, wenn Menschen in der heutigen Welt zum Zölibat gezwungen werden, damit sie dem von ihnen gewünschten Beruf nachgehen dürfen. Wenn sie allerdings dazu bereit sind, dann sollte man sie dabei fördern. Aber wenn sie diesen Weg nicht durchhalten können, sollten sie jederzeit eine Kehrtwende machen und heiraten dürfen. Insofern halte ich den entsprechenden Vorschlag von Kardinal Marx für völlig richtig.
Was müsste die Kirche noch ändern, um wieder attraktiver zu werden?
Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer schrieb kurz vor seiner Hinrichtung in einem Brief, in der jetzigen Form könne man nur noch bei ein paar intellektuell Unredlichen "religiös landen". Und der bedeutende katholische Theologe Karl Rahner betonte mehrfach, das Christentum müsse eine neue Form von Frömmigkeit entwickeln - er nannte sie "Mystagogie" - oder es werde untergehen.
Das dogmatische Bein und das Erfahrungsbein
Was folgt daraus?
Jede Religion steht gleichsam auf zwei Beinen, einem dogmatischen Bein und einem Erfahrungsbein. Ohne Dogmen verkommt sie zu einem bloßen "feel me, love me, touch me", wie vielfach in den USA. Dogmen sind aber keine stur vorgetragenen leeren Behauptungen, als welche sie vielfach missverstanden werden. Vielmehr sehe ich in einem Dogma, buddhistisch formuliert, ein Floß, das mich zum anderen Ufer einer tieferen Einsicht hinführen kann. Bei uns wurde das Erfahrungsbein immer dünner und das dogmatische Bein immer dicker. Dies zeigt sich bei vielen Geistlichen, denen es an spiritueller Kompetenz fehlt. Eigentlich bräuchten sie vom Angang ihres Studiums an eine meditative Schulung. Die findet aber in beiden Kirchen nicht statt oder ist vielfach ungenügend.
Die Kirche - unbeeindruckt von der Wissenschaft
Woran hapert es noch?
Den revolutionären Entwicklungen der Neuzeit, speziell der Astrophysik und der Evolutionsbiologie, stehen die Kirchen weitgehend unbeeindruckt gegenüber. Daher ist ihre Verkündigung in der heutigen Form für viele nachdenkliche Menschen nicht mehr akzeptabel. Ein Beispiel: Pro Tag werden mindestens 250.000 Menschen geboren und fast ebenso viele sterben. Wenn Gott Schöpfer des Himmels und der Erden ist, dann ist er außer für diese Menschen auch noch für den gesamten Kosmos mit seinen Abermilliarden Sternen zuständig. Wie lässt sich das mit der Vorstellung eines Gottes vereinbaren, an den man sich jederzeit wenden kann? Oder wie steht es damit, dass das Universum vor etwa 13,7 Milliarden Jahren entstanden ist? Verdichtet man diese Zeitspanne auf ein Jahr, dann hat Jesus am 31. Dezember 23 Uhr 59 und 55 Sekunden gelebt. Ihm das Attribut "Herr der Welt" zuzuschreiben, ist in dieser Form abstrus. Obwohl einige maßgebliche Theologen sich zu diesen Fragen überzeugend geäußert haben, interessiert das die Kirchen kaum. Stattdessen kämpfen sie mit Vorliebe an Nebenfronten wie dem Zölibat.
Sie haben lange als Vertrauensarzt für beide Kirchen gearbeitet und an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten gelehrt. Glauben Sie eigentlich an Gott?
Ja. In einem Gespräch mit Karl Rahner habe ich allerdings einmal gesagt, ich als Naturwissenschaftler könne mir nicht vorstellen, dass es Gott gibt.
Was sagte Karl Rahner darauf?
"Wissen Sie Herr Huth, ich weiß auch nicht, ob es einen Gott gibt. Aber eines weiß ich: Da ist ein unsagbares Geheimnis, vor dem ich niederknien und das ich anbeten muss." Dieses Geheimnis kann man intellektuell weder beweisen noch widerlegen - aber man kann es auf vielerlei Weisen spüren. Deshalb glaube auch ich an Gott.