Münchner Straßenkampf: Biss-Verkäufer wird gekündigt

Frank Schmidt war der Vorzeige-Verkäufer der Obdachlosenzeitung „Biss“. Jetzt wurde ihm fristlos gekündigt.
Anja Perkuhn |
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Der Ex-Verkäufer in der „Biss“-Plakatkampagne 2015.
Biss 2 Der Ex-Verkäufer in der „Biss“-Plakatkampagne 2015.
Hartz IV bekommt Frank Schmidt nicht, darum singt er jetzt unter anderem für Geld.
Daniel von Loeper 2 Hartz IV bekommt Frank Schmidt nicht, darum singt er jetzt unter anderem für Geld.

München – Im Juni noch ist Frank Schmidt nach Seattle geflogen worden, um von seinem Leben zu erzählen. Auch in den USA wollte man die Geschichte hören von ihm, dem Gescheiterten, dem Obdachlosen, der seine Schulden in den Griff bekommen und wieder eine Wohnung gefunden hat. Und wie ihm die Münchner Obdachlosenzeitung „Biss“ dabei geholfen hat.

Frank Schmidt, der Vorzeige-Verkäufer, ist schon viel in der Welt unterwegs gewesen, hat auf Konferenzen das Konzept von „Biss“ vorgestellt. Bei der diesjährigen Plakatkampagne ist er eines von drei Gesichtern, mit denen sich das soziale Unternehmen schmückt. Eine Erfolgsgeschichte. Heute sagt er: „Biss kann mich am Arsch lecken. Die sehen mich nie wieder.“ Frank Schmidt kommuniziert mit der Leitung des Magazins – Geschäftsführerin Karin Lohr und dem Ehepaar Denninger – nur noch über seinem Anwalt. Im Oktober hat „Biss“ ihm fristlos gekündigt. Auch die Ein-Zimmer-Wohnung des 50-Jährigen wurde vor drei Wochen gekündigt. Er kommt jetzt bei Freunden unter, bringt hin und wieder eine seiner Uhren zum Pfandleiher oder zieht mit der Gitarre durch München und singt, bis die Polizei ihn verscheucht. „Ich bin wieder genau da, wo ich vor mehr als 20 Jahren angefangen habe“, sagt Schmidt. Dabei versagt seine sonore Stimme mehrmals – weil er auch so singt, wie er alles tut: Nur mit halber Kraft geht nicht. Die Leute bleiben deshalb nicht verträumt stehen und hören zu, sondern machen kopfschüttelnd und lachend Fotos.

 

Teilweise hat er 1800 Euro im Monat verdient – netto

 

Warum „Biss“ die Zusammenarbeit so abrupt beendet hat? Eine Erklärung habe es nicht gegeben, sagt er. Geschäftsführerin Lohr bestreitet das: „Ein Grund wurde ihm genannt. Wir kündigen niemandem ohne Grund. Es gab eine längere Vorgeschichte.“ Da im Januar ein Termin vor dem Arbeitsgericht ansteht, will sie sich nicht weiter äußern. Schmidt war einer der Top-Verkäufer. Für 1,10 Euro pro Stück erwirbt man als Verkäufer die Hefte und verkauft sie weiter für 2,20 Euro. „Oft habe ich 1800 Euro netto verdient im Monat“, sagt er. Darum bekommt er jetzt auch kein Hartz IV.

Sein Erfolg mag daher kommen, dass er in seinem früheren Leben gelernt hat, wie das Geschäft läuft: Wer abwartet, der kommt nicht voran. Acht Jahre lang war er selbstständiger Spediteur in Hamburg. „Ich hatte dicke Autos, teure Uhren, eine schicke Dachgeschosswohnung.“ Dann machte er hohe Schulden, eine halbe Million, sagt er. Schmidt tauchte ab. Er jobbte sich durch, landete auf der Straße. Zog quer durch Deutschland, war drei Jahre in Wien. Dann verschlug es ihn nach München – und zu „Biss“. Erst als freier, dann als festangestellter Verkäufer.

Das Unternehmen pflegt seit 15 Jahren ein beispielloses Geschäftsmodell: Es hat 43 angestellte Verkäufer, für die es Sozialbeiträge und Krankengeld zahlt. Die Denningers halfen Schmidt bei seinen Schulden – und er verkaufte zwischen 3000 und 5000 Hefte monatlich. Frank Schmidt glaubt, dass sein Rauswurf damit zu tun hat, dass er jetzt clean ist. Alkoholabhängig war er, drogenabhängig, sexsüchtig. Das habe er bei „Biss“ im Griff gehabt. Nur ohne das Medikament Tavor ging es nicht.

 

Jetzt verkauft er Münchens neue Obdachlosenzeitung

 

Der Wirkstoff Lorazepam ist angstlösend, schlaffördernd. „Wenn du das tagsüber nimmst, putscht es dich auf“, sagt Schmidt. „Das Kokain für den kleinen Mann.“ Vier bis sechs Pillen nahm er täglich. Auch, weil ihm das beim Verkaufen geholfen hat. Offen sein, Menschen ansprechen, unter Strom stehen, der Top-Verkäufer sein – dabei fühlte er sich gut. Dann überwarf er sich mit seiner Ärztin, sagt er. Sie verschrieb ihm kein Tavor mehr. „Ich bin eine Woche lang wach gewesen, mein Kopf spielte verrückt. Bamm-bamm-bamm ging das“, erzählt er. Ende 2014 wies er sich ein zum Entzug. Seit Juli ist er clean. „Ich hatte die ganzen Jahre immer Schiss um meinen Job, wollte die Biergärten als Verkaufsgebiet behalten, ein Auto fahren.“ Mit klarem Kopf habe er jetzt aber gemerkt: „Was, wenn ich morgen tot umfalle? Was habe ich dann vom Leben gehabt? Seitdem kann ich mich nicht mehr kleinmachen, jetzt kann mich keiner mehr verbiegen.“

Deshalb habe die Rückendeckung für ihn bei „Biss“ nachgelassen. Vertriebschef Johannes Denninger habe zum Beispiel andere Verkäufer nicht mehr zurechtgewiesen, wenn sie in Schmidts Verkaufsgebiet unterwegs waren. Und dann kam der Rauswurf. Wie es weitergeht für Frank Schmidt? Seit einer Woche arbeitet er als Verkäufer für „Charity München“ – dem im November gegründeten neuen Obdachlosenmagazin. 700 Magazine hat er schon verkauft. Wenn er so weitermacht, kann er kein Verkäufer mehr sein, denn diese Jobs sind als Unterstützung für sozial Schwache gedacht. Nicht für Top-Verdiener wie ihn.

Eine Lösung könnte sein, heißt es bei „Charity München“, dass Schmidt zweiter Vertriebsleiter wird. Eingefallen ist das dem ersten Vertriebsleiter Bernhard Gutewort. Der ist übrigens „Biss“-Gründungsmitglied und war jahrelang Verkäufer. Bis sie ihm gekündigt haben.

 

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