Münchner erzählen ihre Lebensgeschichte

Erinnerungen sollen erhalten bleiben: Ein „Zeitzeugenbus“ sammelt am Max-Joseph-Platz die Geschichte(n) des 20. Jahrhunderts ein. Drei persönliche Gespräche
Gesa Borgest |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Vor der Staatsoper steht der „Zeitzeugenbus“ mit dem mobilen TV-Studio
Theresa Högner Vor der Staatsoper steht der „Zeitzeugenbus“ mit dem mobilen TV-Studio

Erinnerungen sollen erhalten bleiben: Ein „Zeitzeugenbus“ sammelt am Max-Joseph-Platz die Geschichte(n) des 20. Jahrhunderts ein.

München - Geschichte soll leben. Das ist das Motto des gemeinnützigen Vereins „Gedächtnis der Nation“, den auch das ZDF und der „Stern“ unterstützen. Persönliche Erzählungen werden als Videos gesammelt und kostenlos im Internet zur Verfügung gestellt. Die Menschen sprechen über Nationalsozialismus, die Deutsche Teilung, Globalisierung (www.gedaechtnis-der-nation.de).

Zu 15 Städten fährt ein „Zeitzeugenbus“, ein Lastwagen mit einem mobilen TV-Studio. In München stand der Lkw vor der Staatsoper.

Die AZ war bei den Gesprächen dabei. Hier drei persönliche Geschichten:

„Ich habe an die Nazis geglaubt“

Dass Marlene Riemer 91 Jahre alt ist, sieht man ihr nicht an. Genau so wenig, wie die Turbulenz ihrer Vergangenheit.

1920 wird sie in Berlin geboren, der Vater ist Fabrikbesitzer – die Mutter Hausfrau. Sie wächst in einer Siebenzimmerwohnung auf, mit zwei Dienstboten, mit Chauffeur, mit Turngeräten im Flur. Sie tobt mit ihren zwei Schwestern, hört der Mutter beim Gitarrespielen zu, von Politik bekommt sie nichts mit. Die Depression trifft die Familie schwer, 1931 zieht sie in eine Fünfzimmerwohnung. „Da hatten wir nur noch ein Dienstmädchen, das Auto war kleiner“, erinnert sich die Frau, die niemals müde gewesen zu sein scheint, so lebendig wirkt sie auf dem orangen Stuhl im mobilen Studio.

Wie viele in ihrer Generation tritt Marlene Riemer dem Bund Deutscher Mädel (BDM) bei. Sie glaubt an Hitler, den Heiland, und an das Deutsche Volk. „Meine Eltern sind nicht in die Partei eingetreten. Sie waren sehr kritisch“, sagt sie. Aber sie trauten sich auch nicht, vor den Kindern über Politik zu sprechen – aus Angst, die Mädchen könnten sich beim BDM verplappern. Als Goebbels 1943 die Sportpalastrede hält und „Wollt ihr den totalen Krieg?“ schreit, ist Riemer eine der „Ja“-Antwortenden.

Im Elsass arbeitet sie als Lehrerin, dort bricht ihre Welt zusammen: Die Amerikaner überqueren den Rhein. „Das hatte ich nie für möglich gehalten“, sagt sie. Heute ist sie verwundert über ihre Naivität. Um Essensmarken zu erhalten, sammelt die Frau, die sonst immer bekocht wurde, Kartoffelkäfer – die Franzosen warfen sie, um dem Volk die Nahrung zu nehmen.

Dann, 1944, als die Brücken schon zerbombt sind, muss sie fliehen – Richtung Westen. Später schmuggelt sie Lebensmittel über die grüne Grenze, zu ihren Eltern. Sie arbeitet weiter als Lehrerin, wird Mutter und Atomkraftgegnerin und kommt zur Ruhe. Heute lebt sie in München – ganz ohne Dienstboten.

„Ich ging an vielen Toten vorbei“

Von seinem Fenster im Tal aus beobachtet Bruno Schmied am 9. November 1938, wie der Herrenausstatter „Goldene 19“ zerstört wird. Männer in brauner Uniform schlagen die Scheiben ein, werfen Schaufensterpuppen auf die Straße. Reichspogromnacht. Dass die „Goldene 19“ einem Juden gehört, weiß Schmied bis dahin nicht.

An den nächsten Morgen, an seinen Weg zur Arbeit erinnert er sich genau: „Ich ging an der Feldherrnhalle vorbei und da waren viele Tote aufgebahrt.“ Ermordet oder aus ihren Gräbern genommen. „Niemand sprach darüber. Was geschehen war, schien normal“, sagt der heute 92-Jährige.

1939 wird Schmied eingezogen. Er marschiert nach Paris, wo Sekt billig ist. Dann wird er an die Ostfront gebracht, läuft bis kurz vor Moskau und soll schließlich doch zurück nach Holland. Er spricht über das Marschieren wie manch einer vom Wandern – als wäre es nichts weiter als eine angenehme Reise. Nur manchmal rutscht ihm eine Erinnerung heraus, wie er ausgehungert durch einen Wald läuft. Wie er frierend in einem Graben liegt, wie die Erde der Panzer wegen bebt – und er weiß, dass die Russen kommen. Die grauenhaften Geschichten erzählt der Mann, als wären es nicht seine, so distanziert wirkt er.

Lieber erzählt er von schönen Begegnungen. Von Trude etwa, einer Holländerin, die er in Rotterdam kennen lernt. Er verliebt sich, beim Heimaturlaub besucht er nicht seine, sondern ihre Familie. Dass er eigentlich der Feind ist, kümmert niemanden. Dann wird er gefangen genommen und ist bis 1949 in einem russischen Lager.

Von der Teilung Deutschlands hört er erst, als er in München aus dem Zug steigt. Am Gleis steht seine Familie, seit Jahren hatte niemand von ihm gehört. „Den Schrei meiner Schwester werde ich nie vergessen“, sagt Schmied und wird leise. Und jetzt, am Ende seiner Erzählungen, kommen ihm die Tränen.

"Ich floh aus der DDR“

Am 22. September 1965 flieht ein Mann in den Westen – über die Grenze, die er selbst jahrelang verteidigt hat.

Reinhard Beer wächst in der DDR auf und liebt die Abenteuer, die verfallenen Häuser, die raue Jugend. „Dass hinter all dem eine große Lüge stand, war mir stets klar“, sagt der heute 68-Jährige. „Denn das, was immer wieder gesagt wurde, nämlich, dass die DDR eine reinste Menschenbeglückung sei, stimmte nicht.“

Im Geschichtsunterricht erklärt er seinem Lehrer, dass Revolutionen gewaltlos und deshalb gut sein können. „Schauen Sie sich Gandhi an, oder Jesus!“, sagt der Junge. Der Lehrer bricht die Diskussion ab, denn freie Meinungsäußerung steht nicht auf dem Lehrplan. „Wahrheit macht euch frei!“, erklärt Beer seinen Freunden, anschließend beglückwünschen sie ihn hinter vorgehaltener Hand zu seinem Mut.

Weil er später als Mechaniker-Lehrling nichts taugt, geht Reinhard Beer zur Nationalen Volksarmee. Er wird Grenzsoldat und lernt schnell, wann Schichtwechsel stattfinden, wie man Stacheldraht aufwickelt, welche Stellen im Dickicht verborgen bleiben.

Sein Wissen nutzt er für seine Flucht: Mit einem Schulfreund klettert er am 22. September 1965 um 19 Uhr über den Zaun – gerade, als zwei Soldaten, Beers ehemalige Genossen, ihre Posten wechseln. Dass sie im Westen sind, glaubt der Freund zunächst nicht. Erst eine blinkende Baustelle im Dunklen ist der Beweis. „Denn in der DDR hätte man die Lichter nachts ausgemacht, um Strom zu sparen.

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.