Münchens Problemkinder: Glotze, Cola, Chips

Zu dick, zu viel TV, kein Kindergartenplatz: Krankenschwestern kümmern sich – in allen sozialen Schichten – um Münchner Risikokinder. Die Probleme sind überall die gleiche.  
von  Julia Lenders
Vor der Glotze: Ein extremer Fernsehkonsum des Kindes kann Anzeichen für Vernachlässigung sein.
Vor der Glotze: Ein extremer Fernsehkonsum des Kindes kann Anzeichen für Vernachlässigung sein.

Krankenschwestern kümmern sich – in allen sozialen Schichten – um Münchner Risikokinder. Die Probleme sind überall die gleichen.

MÜNCHEN Kinder, die zu dick sind. Die zu viel Fernsehn schauen und sich langsamer entwickelt haben, als sie eigentlich sollten. All das gehört zum Alltag der 26 Kinderkrankenschwestern, die im Auftrag des städtischen Gesundheitsreferats in die Münchner Familien schauen.

Jedes zehnte Münchner Kind ist übergewichtig, wenn es in die Schule kommt. Das zeigte sich früher oft erst bei der Einschulungs-Untersuchung. Deshalb beschloss der Stadtrat vor einigen Jahren, die Hausbesuche auszuweiten.

Die Zielgruppe: Kinder, die keine Betreuungseinrichtung besuchen. Familien, die arm sind. Die kein soziales Umfeld haben, das ihnen hilft. Oder Eltern, die schlicht überlastet sind – egal ob sie in Bogenhausen oder Neuperlach leben. „Risikokinder” werden die Kleinen genannt, die unter erschwerten Bedingungen aufwachsen.

Für einen Zeitraum von elf Monaten haben die Kinderkrankenschwestern ausgewertet, was sie bei ihren Hausbesuchen festgestellt haben. Und zwar bloß bei den Kindern zwischen drei und sechs Jahren. Das Ergebnis ist Besorgnis erregend. Auch weil klar ist: Es zeigt nur die Spitze des Eisbergs.

225 Kinder sind in dieser Zeit (Oktober 2010 bis August 2011) von ihnen betreut worden. Die meisten kamen aus Familien mit ausländischen Wurzeln. Im Schnitt haben die Krankenschwestern bei ihnen drei Mal nach dem Rechten gesehen. Elf Familien lehnten nach dem ersten Mal aber weitere Besuche ab – das Angebot ist freiwillig.

59 Kinder zeigten Hinweise auf eine Entwicklungsverzögerung. Das heißt: Sie konnten zum Beispiel mit drei Jahren keine Sätze bilden, die aus drei Worten bestehen. Mit fünf Jahren konnten sie weder eine Schere benutzen, kleben oder basteln. Freihändig eine Treppe besteigen? Ging nicht. Ein Erlebnis in logischer Reihenfolge berichten? Auch das überforderte sie. Bei mehr der Hälfte dieser auffälligen Kinder bemängelten die Schwestern „zu viel Medienkonsum”.

Doch nicht nur sie hingen zu viel vor Glotze oder Computer. Von den insgesamt 225 Kindern verbrachten 124 „übermäßig” viel Zeit damit, deutlich mehr als die Hälfte. Wobei die wenigsten sich Kinderprogramme anschauten.

100 Kinder tranken zu viel Zuckerzeug – bei manchen landete der Eistee schon im Baby-Fläschchen (siehe Interview). Dazu noch Schoko, Chips, Erdnussflips oder Pommes – 37 der Zwergerl aßen zu kalorienhaltig. Die Folgen waren 17 Kindern schon deutlich anzusehen: Sie waren zu dick.

Was allen Familien gemeinsam war: Sie hätten gerne einen Kindergartenplatz für ihren Sprössling gehabt. Oft hatten sie aber eine Ablehnung bekommen. „Manchmal auch trotz intensivster eigener Bemühungen”, heißt es in dem Bericht. In anderen Fällen wussten die Eltern gar nicht, dass sie sich auch bei mehreren Einrichtungen hätten bewerben können. Mit Hilfe der Schwestern klappte es bei vielen Familien dann doch noch: Für 98 Kinder konnte ein Kita-Platz gefunden werden.


Und das ist nicht der einzige Erfolg der Hausbesuche. Die Krankenschwestern vermittelten zum Beispiel Frühförderung. Sie sorgten dafür, dass die Kinder in Sportvereine gingen, oder auch mal Obst bekamen. Sechs Kinder nahmen tatsächlich ab, eines hat sogar wieder Normalgewicht.

Jetzt wollen sich die Schwestern noch besser vernetzen. So sollen Kindergärten in Brennpunkt-Regionen einbezogen werden. Damit Eltern sich melden können, wenn sie dort keinen Platz bekommen haben.

Hausbesuche finden übrigens nicht nur bei Zwergerln im Kindergartenalter statt. Allein 2011 haben die Krankenschwestern 40 Prozent aller Neugeborenen einen Hausbesuch abgestattet. Und auch bei 15 Prozent der Ein- bis Zweijährigen standen sie mir Rat und Tat zur Seite.
 

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Ein Interview mit einer Kinderkrankenschwester lesen Sie in der aktuellen Print-Ausgabe.

 

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