Münchens Gründungsgeschichte wird umgeschrieben

Historiker lenken ein: Es gab im Jahr 1158 an der Isar keinen Brückenbrand und keinen Schiedsspruch des Kaisers – ein Pädagoge hatte in der Abendzeitung die Debatte angestoßen
Das Erstaunen war groß, als der Museumspädagoge und Kunsterzieher Freimut Scholz zum 850. Jubiläum der Stadtgründung im vergangenen Jahr in der Abendzeitung seine Thesen vorstellte. Diese warfen nicht weniger über den Haufen als die bisherige Münchner Gründungsgeschichte. Nach dieser traditionellen Version hat der Welfen-Herzog Heinrich der Löwe im Jahre 1158 dem Bischof Otto von Freising die Brücke bei Föhring niedergebrannt, um den lukrativen Salzhandel an sich zu reißen und über seine eigene, isaraufwärts gelegene Brücke zu leiten. Dort sei dann, als Kaiser Barbarossa den Gewaltakt im „Augsburger Schied“ auch noch absegnete, München entstanden.
Der 71-jährige Scholz untersuchte die vorhandenen zwei Urkunden aus dieser Zeit genau und kam zu spektakulären Schlüssen: Eine Zerstörung der Brücke des Bischofs werde erst 1180 erwähnt, es sei deshalb sehr unwahrscheinlich, dass diese etwas mit den Ereignissen von 1158 zu tun habe. Damals habe es vielmehr eine politische Vereinbarung über den Salzhandel gegeben, die sich günstig für das wohl schon etwas länger bestehende München ausgewirkt habe. Die Brücke brannte, wenn überhaupt, erst bei späteren Streitigkeiten.
Ein verspäteter Erfolg
Inzwischen schwenken immer mehr Historiker auf die Linie von Scholz ein, wie auch in dem neuen wissenschaftlichen Sammelband „München, Bayern und das Reich im 12. und 13. Jahrhundert“ (C. H. Beck Verlag, 42 Euro) dokumentiert wird. Im neuen AZ-Interview bilanziert Scholz den verspäteten Erfolg seiner Thesen und prophezeit weitere überraschende Entdeckungen in der Münchner Frühgeschichte. gr.
Freimut Scholz im Interview
AZ: Herr Scholz, im Sommer haben Sie im AZ-Interview die Geschichte der Münchner Stadtgründung neu interpretiert. Werden Sie immer noch totgeschwiegen, wie Sie damals klagten?
FREIMUT SCHOLZ: Das ist eine Frage der Perspektive. Unter Fachleuten gibt es inzwischen zwei unterschiedliche Standpunkte zu meinen Thesen. Auf der einen Seite stehen die, die bislang noch nichts über München publiziert haben und somit noch unbelastet sind. Vor allem von denen bekomme ich positive Rückmeldungen. Neulich sagte mir ein Historiker aus Wuppertal: „Natürlich haben Sie Recht."
Und die anderen schweigen?
Es gibt auch in München immer mehr Historiker, die mir zustimmen. Etwa im Haus der bayerischen Geschichte oder Professor Alois Schmid von der Akademie der Wissenschaften. Aber viele andere Experten für Münchner Frühgeschichte haben die alte Version der Stadtgründung sehr vehement vertreten. Die sträuben sich zum Teil immer noch gegen meine Thesen, denn sie müssten über ihren eigenen Schatten springen.
Was war die übelste Reaktion, die Sie bekamen?
So schlimm ist’s jetzt auch nicht. Aber manchmal heißt es, meine Überlegungen seien reine Spekulation. So wird versucht, neue Erkenntnisse auf die Seite zu schieben und eine Diskussion zu verhindern. Das finde ich schon unangenehm.
Und woran sehen Sie – abgesehen von dem neuen Sammelband der LMU-Historiker – ihren Erfolg?
Meine Version der Geschichte beginnt hier und da abzufärben und beschäftigt die Menschen. Das geht bis zu OB Ude. Er kennt offenbar meine Thesen, wollte sich aber noch nicht festlegen und reagierte eher kabarettistisch: Da gebe es so einen Professor, der die Geschichte in Frage stellt...
Nicht viele werden für ein Buch vom OB gleich zum Professor gemacht... Im Ernst: Schon bei Veranstaltungen im Rahmen des Stadtjubiläums war spürbar, dass viele Platzhirsche unter den München-Historikern sich in dieser Frage plötzlich nur noch sehr vorsichtig äußerten.
Ja, den Eindruck hatte ich auch. Da wurden einige sehr defensiv und argumentierten, 1158 gab es „möglicherweise“ doch keinen Brückenbrand, „möglicherweise“ sei das ein Mythos und so weiter. Ich halte das für einen sehr halbherzigen Rückzug, denn ein Mythos ist es ja gerade nicht. Ein Mythos ist eine Erzählung aus einer unbestimmten Wurzel, wie etwa der römische Gründungsmythos. Aber hier geht es um zwei konkrete Urkunden aus dem 12. Jahrhundert, die bislang falsch interpretiert wurden. Das hat mit einem Mythos nichts zu tun.
Warum fällt es Fachleuten so schwer, eine neue Sichtweise anzunehmen? Egoismus?
Ich vermute, dass das auch eine Rolle spielt. Es fällt vielen schwer, von einer immer wieder vertretenen Meinung öffentlich Abstand zu nehmen. Viele haben sich einfach auf die alte Version der Geschichte verlassen, wie sie Karl Meichelbeck im Jahre 1724 aufgeschrieben hat. Es wurde nicht genau genug nachgedacht.
Sie haben auch in Schulen gesprochen, und den Kindern gesagt: Da haben euch die Lehrer bislang was Falsches erzählt. Fliegen Sie da nicht sofort hochkant aus dem Klassenzimmer?
Ich habe immer in freundlicher Atmosphäre dazugesagt, dass man das halt immer so erzählt hat, das war ja keine Dummheit von den Lehrern. Die Lehrer haben mir fast alle voll zugestimmt.
Gab es auch offizielle Würdigungen?
Mündlich schon. Schriftlich dauert das etwas länger. Bis in Fachkreisen ein Echo auf so einen Aufsatz kommt, vergehen schon mal drei Jahre, da ist der neue Sammelband der LMU-Historiker sogar recht schnell. Wie ich höre, ist außerdem ein Artikel über die Rezeption der Urkunde von 1180 in der Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte geplant.
Die Umstände von 1180 sind offenbar noch komplizierter als gedacht. Stecken noch mehr ungelöste Rätsel der Urkunde aus diesem Jahr?
Ja, da bin ich noch am Forschen. Ich bin mir sicher, dass hier noch interessante Überraschungen kommen.
Es gibt also noch viel zu korrigieren in der Münchner Frühgeschichte?
So ist es, aber nicht alles ist so plakativ wie die Frage des Brückenbrandes. Es geht vor allem um die Entwicklung des Verhältnisses zwischen dem Freisinger Bischof und dem Herzogtum.
Und wann bekommen Sie die Medaille „München leuchet“?
Damit kann ich nicht wirklich rechnen. Ich habe schon den Verdacht, dass die Münchner auf ihre althergebrachte, also fast kriegerische Gründungsgeschichte ein bisschen stolz sind. Der Kulturreferent hat das im Jubiläumsjahr sehr schön auf den Punkt gebracht, als er sagte: Da lernen die Kinder, das sich Gewalt am Ende auszahlt. So ist es ja leider doch meistens auf der Welt.
Und sie werden jetzt Botschafter einer neuen Münchner Friedensgeschichte.
Ja und nein! Es war ja ein Konflikt zwischen Heinrich dem Löwen und dem Bischof, da beißt die Maus keinen Faden ab. Aber kein so brutaler, wie es dem Heinrich immer unterstellt wird.
Geschichte ist wie Chemieunterricht: Wenn's kracht, ist es einfach spannender...
Das mag ein Grund sein, warum man an der alten Version so gerne festhält.
Interview: Michael Grill