München: Weiße Friedens-Fahnen am Tag der Befreiung
München - München liegt in Trümmern. Ein Kriegsversehrter quält sich auf einem Bein mit Hilfe von Krücken durch die wüst zerstörte Stadtlandschaft – ein beklemmendes Szenario.
20 bewegende Fotos vom Kriegsende in München zeigt die Gewerkschaft Verdi zum Tag der Befreiung Münchens, am 30. April 1945, in ihrer Online-Galerie. Zu 90 Prozent sind die Bilder kopiert aus dokumentarischen Filmaufnahmen der US-Armee, ein Rest stammt aus anonymen Privatarchiven.

Die "Rainbow Division" der US-Armee filmt ihre Einfahrt in die Stadt, sie zeigt das schwer getroffene Siegestor, den zerstörten Hauptbahnhof. In den Tagen nach der Befreiung dokumentieren sie den Schriftzug, gepinselt an die Feldherrnhalle: "KZ Dachau – Velden – Buchenwald. Ich schäme mich, dass ich ein Deutscher bin". Ein Bild zeigt drei Menschen, die mit ihren Schuhen auf eine Hakenkreuz-Fahne treten. Sie liegt auf der Treppe des ehemaligen Führerbaus, heute die Münchner Musikhochschule.
Eigentlich findet die Maikundgebung am Marienplatz statt
Der 1. Mai 1945, genau vor 75 Jahren, war der erste Tag ohne Nazi-Herrschaft. "Ein Tag zum Feiern", findet Sepp Rauch, Leiter des Verdi Kulturforums.

Ursprünglich hatte der pensionierte Gewerkschafter mit dem Künstler Wolfram Kastner zur Ersten-Mai-Kundgebung am Marienplatz die 20 historischen Fotos zeigen wollen: Eindrucksvoll vergrößert an die Rathaus-Fassade montiert. Doch wegen Corona zeigen sie die Fotos von München in Schutt und Asche im Internet.
Geschätzt 3.000 bis 15.000 Menschen versammeln sich sonst zur Maikundgebung der Gewerkschaften am Marienplatz - heuer gibt es nur eine virtuelle Demo. Sepp Rauch war über 40 Mal dabei. Er erzählt: "Ende der 60er Jahre fand die noch auf dem Königsplatz statt. Wir wollten heuer auch Bilder von Widerstandskämpfern zeigen. Arbeitnehmer treten am 1. Mai für ihre Rechte ein – und für eine politische Landschaft, in der Menschen sich entfalten können."
Kunstaktion als Zeichen des Widerstands
Der Krieg hatte zurückgeschlagen: Von den "grauenvollen" Fotos und Ruinenfilmen des zerstörten München beeindrucken Künstler Wolfram Kastner (72) vor allen die von den Menschen, die am Karlstor den einfahrenden US-Amerikanern mit kleinen weißen Tüchern winken: "Es waren nur ein paar wenige, die sich damals befreit fühlten und die die Amis mit Freude begrüßt haben. Doch diese weißen Fahnen waren wichtig. Darauf kommt es in der Gegenwart an", sagt er.

Auf seine Initiative werden am Tag der Befreiung Münchens – am 30. April und am 1. Mai – Kunstaktion weißen Fahnen, Tücher und Laken aus vielen Fenstern hängen: über 35 Orte, wie das Residenztheater, das DGB-Haus, das BMW-Museum oder die Staatskanzlei haben zugesagt mitzumachen.
"Die Idiotie und Verbrechermentalität der Nazis hat Millionen Menschenleben und Kulturelles zerstört. Viele unserer historischen Bauten sind doch Fakes und Remakes. Wie sähe es in München und in Europa aus, hätte es diesen mörderischen Krieg nicht gegeben?", fragt er sich heute.
Am Donnerstag soll jeder für die Freiheit klatschen, singen, jubeln
In den 50er Jahren hat er als kleiner Bub verbotenerweise in den Ruinen des Armeemuseums gespielt, dort wo heute die Staatskanzlei steht. Er hat Ruinenkeller erforscht und gehört, dass Blindgänger immer wieder Jugendliche in die Luft gesprengt haben.

"Ich habe noch erlebt, wie Kriegsverwundete ohne Beine sich auf einem Wägelchen mit den Händen durch die Straßen der Stadt ziehen", erinnert sich Kastner. "Nie wieder Krieg" ist das Credo des Künstlers, der sein Atelier in der Maxvorstadt hat. 75 Jahre nach Kriegsende sollen in München deshalb weiße Fahnen wehen: für Frieden und Freiheit. Initiator Kastner schlägt vor: "Um 12 Uhr am Donnerstag wollen wir die Freiheit gemeinsam beklatschen, besingen oder bejubeln."
Die virtuelle Ausstellung "30. April 1945: Befreiung von Krieg und Faschismus" ist zu sehen unter www.verdi-kultur.de Unterstützer und Fotos der Weiße-Fahnen-Aktion stehen unter: www.TagderBefreiung.online.
Verdi Kulturforum Bayern: Historisches im Internet
Für eine klare Sprache, für engagierte Kunst und politische Fakten steht das Verdi Kulturforum Bayern, auch in "coronarrischen Zeiten", so die Macher der historischen Ausstellungen der Gewerkschaft. Neben Fotos und dokumentarischen Filmaufnahmen vom 30. April 1945, gibt es die Online-Schau "Münchner Maler der Revolution 1918".
Sie zeigt eindringliche Werke, wie vergiftete Soldaten nach einem Gasangriff von Heinrich Ehmsen (eine Leihgabe der Eremitage in St. Petersburg). Der aktive Kriegsgegner Fritz Schaefler malte den "Soldaten im Schützengraben 1915". Die große Demonstration am 7. November 1918 auf der Theresienwiese hielt der Künstler Albin Tippmann mit Bleistift auf Karton fest. Während der Revolutionstage im November 1918, im kriegsmüden München, war Heinrich Kley mit dem Skizzenblock auf den Straßen der Stadt unterwegs (www.verdi-kultur.de).
Fotos und Geschichten aus Nationalsozialismus gesucht
Gesucht werden Menschen aus Bayern im Widerstand gegen den Nationalsozialismus für die "Galerie der Aufrechten". Als lebendiger Ort der Erinnerungskultur möchte die Sammlung ihre Fotos und Lebensläufe von unbekannten Kriegs- und Hitlergegnern ergänzen. Mit einem Klick gelangen Besucher zur Vita der Frauen und Männern des Widerstands.
Das Schwarz-Weiß-Foto einer jungen Frau mit geneigtem Kopf sticht ins Auge: Es ist Marie-Luise Schultze-Jahn, in späteren Jahren ein aktives Mitglied der Weiße Rose Stiftung.
Als junge Frau wurde sie denunziert. Sie hatte nach der Zerschlagung der Weißen Rose geholfen, ein Flugblatt zu verbreiten und Geld eingesammelt für die Familie des ermordeten Weiße-Rose-Mitglieds Kurt Huber. 1945 befreiten die Amerikaner sie aus dem Frauengefängnis in Aichach (www.verdi-kultur.de).
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