"Mein Sohn starb als Versuchskaninchen"

Für einen kranken Buben war München die letzte Hoffnung – aber er ist gestorben. Die Mutter erhebt schwere Vorwürfe: Es geht um fahrlässige Tötung und entnommene Organe.
von  John Schneider, Regina Löwenstein
Galina L. beschuldigt die Schwabinger Ärzte
Galina L. beschuldigt die Schwabinger Ärzte © az

Für einen kranken Buben war München die letzte Hoffnung – aber er ist gestorben. Die Mutter erhebt schwere Vorwürfe: Es geht um fahrlässige Tötung und entnommene Organe. Die Klinik widerspricht.

München -  Viele der Frauen, die diese Geschichte anhören, beginnen zu weinen. Galina I. berichtet von den vielleicht tragischsten Erlebnissen, die eine Mutter haben kann. Sie handelt vom Tod ihres Sohnes. „Ich küsse Serjoscha, ich spüre seine letzten Atemzüge. Das Kind lag 40 Minuten vor unseren Augen im Sterben. Mein Bruder konnte den Anblick nicht ertragen. Er weinte draußen im Korridor.”

Galina I. kann und will den Schmerz nicht allein verarbeiten. Die Frau aus Jekaterinburg erzählt ihre Geschichte öffentlich: im russischen Fernsehen. Dabei geht es auch um die Schuld am Tod des Kindes. Und die sieht Galina I. beim Klinikum Schwabing. Hier ist ihr Bub am 30. Januar 2010 gestorben. Die verzweifelte Mutter erhebt nun schwere Vorwürfe.
„Mein Sohn starb als Versuchskaninchen”, behauptet Galina I. Die Ärzte im Schwabinger Krankenhaus, das ihrem Sohn die letzte Hoffnung auf Heilung geben sollte, hätten ihr Kind nicht nur falsch behandelt, sondern nach dem Hirntod Sergejs auch die lebensverlängernden Maschinen abgeschaltet. Gegen ihren ausdrücklichen Willen. Galina I. hat Strafanzeige gestellt – wegen fahrlässiger Tötung.

Das bestätigte Thomas Steinkraus-Koch, der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft. Ob die Beweise für eine Anklage reichen, ist offen: „Ein medizinischer Gutachter ist derzeit mit dem Fall beschäftigt.”

Die Klinik wehrt sich vehement gegen die Vorwürfe. „Wir haben getan, was wir konnten. Der Bub hatte keine Chance mehr”, sagt Pressesprecher Michel Rodzynek.
Der Fall ist tragisch: Der kleine Sergej ist vier Jahre alt, als bei ihm eine seltene Krankheit, eine Gehirnhautentzündung des Groß- und Stammhirns diagnostiziert wird. Drei Jahre lang wird er behandelt, es besteht der Verdacht auf Krebs, der aber von seinen russischen Ärzten nicht diagnostiziert werden kann. Die Krankheit verschlimmert sich 2008 mit starken eptileptischen Anfällen. 2009 entschließen sich die Eltern, ihr Kind in München behandeln zu lassen.

Doch auch die Münchner Ärzte stoßen an ihre Grenzen. „Es war eine extrem seltene Krebsart”, erklärt Klinikum-Sprecher Rodzynek, „die es bislang nur vier Mal auf der Welt gegeben hat.”
Sergej stirbt – und die Schwabinger müssen sich nun mit den bösen Vorwürfen der Mutter auseinander setzen:

Wurde der Bub falsch behandelt? Dazu sagt Rodzynek: „Es war einfach schon zu spät. Der Bub kam nach der Hormontherapie in Russland bereits völlig aufgedunsen nach München. Dazu war der Zehnjährige vollständig gelähmt und ans Bett gefesselt. Dass Sergej ein Versuchskaninchen gewesen sei, ist eine grauenhafte Unterstellung. Wir haben um das Leben der Buben gekämpft.”

Wurde das Beatmungsgerät ohne die Zustimmung der Mutter abgeschaltet? „Das ist Quatsch”, sagt Rodzynek. Dafür gebe es auch Beweise: „Wir haben alles protokolliert.”

Wurde die Leiche des Kindes ohne einige Organe nach Russland geschickt? Das behauptet die Mutter: Sie habe Sergej deswegen nicht begraben können. Kliniksprecher Rodzynek: „Wir haben eine Obduktion angeordnet, weil die Todesursache nicht klar war.” Die pathologische Obduktion sei in solchen Fällen normal, bestätigt die Staatsanwaltschaft. Dafür wurden Organe entnommen, um davon Proben zu nehmen und an andere Krankenhäuser zur Untersuchung zu schicken. Rodzynek: „Wir haben alle Organe nach dieser Obduktion längst zurückgeschickt.” Es gebe auch keinen Grund, das nicht zu tun: „Die Klinik hat kein Interesse an diesen Organen.”

In russischen Medien ist trotzdem ein Sturm der Entrüstung losgebrochen. Alle wichtigen Zeitungen haben über den Fall berichtet. Galina I. ist im Fernsehen aufgetreten. Titel der Sendung: „Das Münchner Komplott”. Ein Beitrag zeigt sie schluchzend am Grab ihres Sohnes. Ihr Kind habe fürchterliche Schmerzen in Schwabing erleiden müssen. „Wie soll ich weiterleben?” , fragt sie.
In Schwabing heißt es, bei ihrer Recherche seien die russischen Journalisten nicht immer zimperlich vorgegangen, der Vorwurf des Hausfriedensbruchs stehe im Raum. „Unsere Ärzte wurden angegriffen. Ich musste mich schützend davor stellen”, berichtet Rodzynek, der den Journalisten dann Rede und Antwort stand.
Die Schwabinger Klinik hat zudem noch offene Forderungen an die Familie. Michel Rodzynek: „Ich habe Verständnis für das Leid der Mutter. Allein aus Rücksicht auf ihre Trauer haben wir bislang davon abgesehen, noch ausstehende Behandlungskosten einzufordern.”

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