Musik to go: Ein Münchner macht den Servierwagen zur Bühne

Kilian Unger ist im Glockenbachviertel aufgewachsen, sein halber Freundeskreis stammt von dort. Erst besuchte er die Klenze-Grundschule, dann das musische Pestalozzigymnasium, das „Viertel“ war also schon früh sein Einzugsbereich.
Er nahm Klavier-, Gesangs-, Cello- und Gitarrenunterricht, kam mit 13 in den Jugendgospelchor „Young Souls“ von St. Lukas – unter der ausdauernden und herausfordernden Leitung von Liz Howard aus New Orleans. So sammelte er erste professionelle Auftrittserfahrungen im Bayerischen Hof, begleitete Songs auf dem Klavier, durfte einige Soli singen und vor mehreren Hundert Leuten auftreten.
Frühe Prägung durch Gospel und Bühne
Für Heranwachsende ist es eine krasse Erfahrung, sich für den jeweiligen Choral komplett zu öffnen. Gerade beim Gospel ist das Ausfüllen des Raumes und uneingeschränkte Authentizität absolut wichtig, denn das Publikum spürt, wenn eine Sängerin oder ein Sänger das Dargebotene nicht im Herzen fühlt.
Ähnlich wie beim Schauspielhandwerk gilt: Wer andere berühren möchte, muss selbst berührt sein. Darauf legte die Chorleiterin stets großen Wert, es war für Kilian eine ausgesprochen wertvolle Prägung. Heute leitet er den von ihm gegründeten Chor Lost & Found, also „Fundbüro“.
Proben an der Isar, Mitsing-Momente auf der Straße
Generell ist für Straßenmusik in München keine spezifische „Genehmigungszone“ erforderlich, außer in sehr belebten Stadtteilen wie der Fußgängerzone. Hier braucht man eine Genehmigung und muss im Rathaus vorspielen. In Gegenden, wo es nicht viele Geschäfte oder Anwohner gibt, stört es niemanden. Und die Weltstadt mit Herz macht ihrem guten Namen alle Ehre.

Hier darf sogar verstärkt oder mit Loopstation musiziert werden. Bei schönem Wetter probt Lost & Found im Freien, gern auch an der Isar. Manchmal versammeln sich flanierende Menschen erfreut um den Chor.
Musik, die verbindet – spontan und kollektiv
„Ein Lied, das wir gerne singen, heißt Revival von Gregory Porter, ein sehr starkes Lied, bei dem sich große Energie entwickelt. Aber auch Lean on me von Bill Withers kann man sehr schön machen, weil die Melodie sehr einfach ist“, zählt Unger auf. Er frage dann das Publikum, ob es mitsingen möchte. Dann sagt er die jeweilige Textzeile vor und die Leute singen es nach: Sometimes in our lives…We all have pain…We all have sorrow… But if we are wise. „Das ist so eine Art Flüster-Karaoke. Da können die Menschen mitsingen, ohne vorher den Text zu kennen“, sagt Unger.
Zivildienst, Freestyle, Straßenpiano
Im Teenageralter improvisierte er mit Freunden Talkshows. Später, während seines Zivildienstes bei einem ambulanten Pflegedienst in Schwabing, wurde zu Beats Freestyle gerappt. Oder er fragte in Bars und Bistros, wo ein Klavier stand, ob er gegen Trinkgeld spielen darf, was oft klappte und dazu führte, dass er für Hochzeiten oder Geburtstage gebucht wurde.
Unger hatte schon immer eine starke Sehnsucht nach Musik, fühlte sich extrem angezogen von Konzerten und kreativen Strukturen. So entwickelte sich eine künstlerische Richtung, die heute einen Großteil seines Schaffens prägt.
Impro, Loopstation und spontane Lieder
Entwickelt er auf der Bühne aus dem Stegreif musikalische Stücke, ist es ihm nicht wichtig, dass extrem gute Reime dabei herauskommen, sondern dass es im Fluss bleibt und das transportiert wird, was ihn gerade beeindruckt oder bewegt.
Bei Konzerten hat Unger einen rollenden Servierwagen mit Boxen, Mikro und Equipment dabei, das ist quasi sein Arbeitsgerät. Alles, was er sieht oder ihm einfällt, versucht er dann zu gesammelten Loops zu verbalisieren, er fordert sich selbst auf einem hohen Niveau heraus.
Von der Kinder-Suche zum Pfannen-Song
Dabei geht es ihm nicht darum, Menschen zu beeindrucken, sondern sich und andere zu überraschen. Klar performt er auch selbstkomponierte und -getextete Songs, aber das Intuitive ist sein Hauptmerkmal. Beispielsweise suchte neulich eine Mutter auf einem Straßenfest ihre beiden Kinder, die irgendwo in der Nähe spielten. Sie sprach Kilian an, er nahm das Thema sofort auf und verarbeitete die Suche in ein Lied, nach einiger Zeit wurden die Kinder darauf aufmerksam und kamen freudestrahlend zur Bühne, wo die Mama sie glücklich in ihre Arme schloss.
Am gleichen Tag hatte er in einer Häusereinfahrt bei „Zu verschenken“-Artikeln eine große Edelstahlpfanne gefunden. Ein Zuschauer fragte: „Warum haben Sie diese Pfanne dabei?“ – sofort wurde dieses Gerät in das laufende Lied eingebaut, was aber einen Tonartwechsel erforderte, weil die Pfanne auf ein „D“ gestimmt war.
Deutsch und Vietnamesisch
Kilian ist mit einer Deutsch-Vietnamesin liiert und lernt seit einiger Zeit Vietnamesisch, was ihn mit den zahlreichen fernöstlichen Gaststätten und Geschäften im Viertel eng verbindet, wie etwa „Mais Blumen“ in der Holzstraße. Die Inhaber freuten sich schon vor einigen Jahren sehr, dass ein junger Münchner ihre Muttersprache spricht. Sie besuchten 2022 sein letztes Album-Release-Konzert in der Monacensia und brachten haufenweise Blumen mit, er ist häufig im Geschäft zu Gast.
Dann plaudern sie in einem Gemisch aus Deutsch und Vietnamesisch. „Sobald man eine Sprache spricht, schaut man ganz anders auf die Kultur und erhält ungewöhnliche und bereichernde Einblicke zur jeweiligen Einwanderungsgeschichte und was es bedeutet, als asiatische Familie ein eigenes Leben in einem fremden Kontinent aufzubauen, mit höchster Qualität“, sagt Unger.
Familiengeschichte und Lebenswege
Bereits in den 1950er Jahren gab es in der DDR im Rahmen einer Solidaritätsaktion die Möglichkeit für vietnamesische Kinder und Jugendliche, sich schulisch und beruflich ausbilden zu lassen. Nach der Wiedervereinigung siedelten sich deshalb zahlreiche Vietnamesen in München an, so auch die Eltern von Kilians Freundin. Die Mutter war in ihrer Heimat Näherin, der Vater Schlosser, sie betrieben zunächst ein Restaurant und leiten heute einen großen asiatischen Supermarkt in Stuttgart.
Improvisation trifft Theater
Lange spielte Kilian Unger in einem Hotel mit Kolleginnen und Kollegen die Show „Kilian and Friends“, leitete einen Workshop in einem Jugendzentrum, und merkte, er wird als Musiker nach seinem Zivildienst soviel verdienen, dass er sich von dem Einkommen eine Wohnung leisten kann. In die Freiberuflichkeit ist er also eher reingeschlittert, als dass er sich bewusst dafür entschieden hätte. Eines Tages fragte die Leiterin eines Theaters, ob er nicht Lust hätte, Einspielmusiken für Bühnenwerke zu produzieren. Seine Kunst führte ihn unter anderem ins Residenztheater, in die Schweiz und sogar nach Simbabwe.
Die moderne Form eines Volkssängers
So interpretiert er bis heute regelmäßig während Theaterstücken interaktiv sämtliche Melodien und Geräusche live an der Loopstation und am Mikro. Die Spielleitung gibt vor, wie die Stimmung in der jeweiligen Szene sein soll, von düster bis lebensfroh, Kilian komponiert, macht Vorschläge, die Regie äußert Wünsche, wie „bitte etwas grusliger“ oder „lieber etwas dezenter“.
Und schließlich erzeugt der Künstler für das Auditorium sichtbar während des Stückes mit Rasseln, Flöte, Samplern und Mini-Keyboards das gesamte Sounddesign von Flattergeräuschen mit dem Mund oder dem abendlichen Rauschen der Bäume im Wald. Man kann guten Gewissens sagen: Der Impro-Loop-Poet Kilian Unger ist die moderne Form eines Volkssängers.
Unger ist am Donnerstag, den 09. Oktober 2025 ab 20 Uhr im Hofspielhaus zu sehen. Mehr Info unter www.hofspielhaus.de/events/kilian-unger-in-concert, Karten 20 Euro, ermäßigt 15 Euro.