Keine Zeugnisse für Grundschüler: Lieber Gespräch?
München - So klingen typische Zeugnis-Floskeln: „Die Schülerin geht zögernd an Lernaufgaben heran“, oder: „Der Schüler erzählt zusammenhängend und in vollständigen Sätzen.“ Wie schlecht oder wie gut ist das jetzt genau gemeint?
Die ausformulierten Zwischenzeugnisse an bayerischen Grundschulen sind schon lange ein Problem: „Die Kinder verstehen sie sowieso nicht – und viele Eltern auch nicht“, sagt die Direktorin einer Grundschule in Neuhausen: „Verklausuliert, kryptisch, unzeitgemäß“, lautet ihre Kritik.
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Das Manko aus Sicht der Pädagogen: Lehrer müssen die vorgegebenen Spalten, z.B. für Mathe oder Deutsch, immer vollständig mit einem Beurteilungs-Text füllen. Dadurch können sie schlecht Schwerpunkte setzen, die aber erst den realen Leistungen der Kinder gerecht würden. „Wenn die Klassenlehrerin keinen aktuellen Eindruck zu einem Schüler im Kopf hat, füllt sie das Feld oft erzwungenermaßen mit Bemerkungen, die sie vor Monaten notiert hat – auch wenn sein Verhalten inzwischen vollkommen überholt ist“, gibt eine Schulleiterin zu.
Im Zwischenzeugnis dürfen die Bewertungen außerdem nie zu negativ klingen – oft bleiben sie deshalb vage und schwammig, so unbefriedigend wie in Arbeitszeugnissen. Doch das alte, ungeliebte Zeugnis hat bald ausgedient. Zumindest für sechs- bis neunjährige Schüler in den Klassen 1 bis 3. Die Alternative heißt „Lernentwicklungsgespräch“ (LEG) zwischen Lehrer, Schüler und Eltern.
An Modellschulen positiv erprobt, lässt das Kultusministerium erstmals jeder bayerischen Grundschule die Wahl: Ob sie zum Zeugnistag am Freitag auf das konventionelle Zwischenzeugnis verzichtet –zugunsten eines Gesprächs mit dem Kind: Dieses dauert 30 Minuten und findet außerhalb der Schulzeit statt. Ausführlich thematisiert es die Erfolge und Defizite der Schülerin oder des Schülers.
Das Ziel: Kind positiv zu bestärken. „Wenn ich spreche, kann ich sehr viel mehr loben als in dem schriftlichen Zeugnis“, sagt eine Lehrerin begeistert: „Außerdem kommen zu diesem Termin oft Mutter und Vater ins Klassenzimmer. So lernt man sich endlich mal kennen“.
Die Schüler nehmen zu Beginn der Faschingsferien dann das neue Papier mit nach Hause: einen übersichtlichen Ankreuz-Bogen, auf dem die besprochenen Fortschritte, der Entwicklungsstand und Lernbedarf angekreuzt sind.
Rund 25 Prozent der Münchner Grundschulen machen bei den neuen Lehrer-Schüler-Eltern Gesprächen mit. Schulen, die Kinder mit Migrationshintergrund unterrichten, sind besonders froh über die Neuerung.
„Dieser Austausch Lehrer-Schüler-Eltern hat bislang gefehlt“
Manfred Bertram, Leiter der Grundschule an der Thelottstraße am Hasenbergl, hat mit seinem Team die „LEGs“ sofort ausprobiert. Er lobt: „Unsere Eltern verstehen die Zeugnisse meist nicht. Im direkten Gespräch können wir viel klarer sagen, was wir über ihr Kind denken. Was ist wie gemeint? Dieser Austausch fehlte bislang. Auch das Kind kann übrigens sagen: So und so sehe ich das aber nicht.“
Vor allem für Erstklässler gibt es ganz konkrete Vorschläge: Lesen üben, den Buchstaben „G“ zehnmal schreiben. Vielleicht gibt die Lehrerin auch ein Blatt mit Rechenaufgaben im „Zahlenraum bis 20“ mit. Hilfreich für die Beziehung: Die Pädagogen bekommen mit den „LEGs“ ein runderes Bild von jedem Schüler - und Papas und Mamas zu Gesicht, die Elternabende grundsätzlich schwänzen.
So geht das neue „Lernentwicklungsgespräch“
ie erging es dir dieses Schuljahr? Wo hattest du Schwierigkeiten? Wo könntest du dich verbessern? Darüber sollen Sechs- bis Neunjährige beim neuen „Lernentwicklungsgespräch“ (LEG) reden. „Das funktioniert aber nur gut, wenn das Kind vorher geübt hat, über den eigenen Weg und die eigene Leistung zu reflektieren“, wenden erfahrene Pädagogen ein.
Jede Schule - die zum Zwischenzeugnis am Freitag schon mitmacht - hat eigene Fragebögen entwickelt. Darauf kreuzen die Schüler an, wo sie sich selbst sehen. Abgeglichen mit den Notizen der Lehrerin plus den Nachfragen der Eltern ergibt sich daraus ein Gespräch: über Motivation und Sozialverhalten, Stärken und Schwächen in den einzelnen Fächern - zum Schluss werden Ziele für den Rest des Jahres vereinbart.
„Wir freuen uns über diese neue Möglichkeit. Unser Team hat sich vor den Sommerferien schon damit befasst. Die Kollegen sehen hier eine gute Chance individueller auf jeden Schüler einzugehen. Doch der Arbeitsaufwand für unsere Lehrerinnen ist sehr hoch. Es muss sich erst weisen, ob es sich bewährt.“, sagt Angelika Nerz-Lidl, Leiterin der Grundschule Gräfelfing. Ihre 68 Erstklässler, in drei Klassen, und die 70 Zweitklässler bekommen jetzt am Freitag nicht den typischen „Wisch“ in die Hand. Sie nehmen einen innovativen Zeugnis-Bogen mit nach Hause – das viel konkretere und aufschlussreichere Gesprächs-Protokoll.
Eltern loben die Initiative: „Toll, jetzt weiß ich echt Bescheid“ und: „Meine Hochachtung vor der Arbeit der Lehrerinnen“, sagen sie. In ersten und zweiten Klassen kommt das Gespräch bei Eltern und Kindern super an.
In München machen nur wenige Schulen mit
München hat 132 Grundschulen. 51 sind im Münchner Speckgürtel (Landkreis), 2405 sind es bayernweit. Mit Erst- Zweit- und Drittklässlern durften sie erstmals innovative Lernentwicklungsgespräche (LEG) führen. Doch 75 Prozent der Münchner Grundschulen machen nicht mit, nur rund 35 Schulen sind dabei. Ein Grund dafür: Die Neuerung wurde – kurz vor den Sommerferien – eher „überstürzt“ eingeführt, sagen Lehrer.
Warum viele Schulen zögern, erklärt der AZ eine Schwabinger Schulleiterin, die nicht genannt werden will: „Mit dem bisherigen Zeugnis sind wir auch nicht glücklich. Aber unser Kollegium will keinen Schnellschuss. Wir haben anspruchsvolle Eltern, bieten Qualität, und eiern nicht herum. Wir möchten die Gespräche langsam, differenziert und professionell angehen. Deshalb lassen wir es vorerst.“
Erfreulich ist, dass Schulen selbst entscheiden, ob sie mitmachen. Denn der Zeitaufwand für die neuen Zeugnis-Gespräche ist enorm: Termine mit allen Eltern finden. Mit jedem Kind aus der Klasse ein 30-minütiges Gespräch einplanen – plus Ankreuzl-Protokoll. Pro Schüler ist das mindestens eine Stunde mehr Aufwand, sagen Lehrer. Ein Extra-Engagement, Überstunden, die schlichtweg erwartet werden. Das Bayerische Kultusministerium dazu: „Es ist verständlich, dass Schulen erste Erfahrungen mit den Gesprächen abwarten. Schon nächstes Jahr nehmen sicher mehr teil.“ Auf AZ-Nachfrage starten 2015/16 die Modellgrundschule an der Burmesterstraße (Freimann), die Grundschule an der Blutenburgstraße (Maxvorstadt) und die an der Haimhauserstraße (Altschwabing) ebenfalls mit dem gesprochenen Zeugnis.
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