"Jüdisches Leben von Geburt bis Tod": Israelitische Kultusgemeinde München feiert
"She'erit Hapleta" – der gerettete Rest, so nannten sich die Jüdinnen und Juden, die den Holocaust überlebt hatten. Als sie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Niedergang des Nationalsozialismus im Mai 1945 zueinander fanden, dauerte es nicht lange, bis in Deutschland wieder die ersten jüdischen Gemeinden entstanden, so auch in München. Vor 80 Jahren – am 15. Juli 1945 – wurde hier die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern (IKG) wiedergegründet, knapp zwei Jahre nach der Auflösung durch die Nationalsozialisten.
Die meisten Juden in Deutschland damals waren dem Historiker Andreas Wirsching zufolge befreite Zwangsarbeiter, Überlebende der Todesmärsche oder Insassen aus Konzentrationslagern, dazu kamen immer mehr Juden aus Osteuropa. "Sie flüchteten aus ihren Heimatländern, da sie dort neue Verfolgung erfahren hatten und keine Perspektive für sich sahen", sagt der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ).
Nicht alle Versprengten konnten Deutschland verlassen
Hierbleiben wollte nach Angaben Wirschings aber langfristig niemand. "Die meisten dieser entwurzelten Menschen, strebten die Weiterwanderung an, insbesondere nach Palästina oder in die USA. Allerdings konnten oder wollten nicht alle dieser Versprengten Deutschland verlassen, sodass schon früh neue jüdische Gemeinden auf deutschem Boden entstanden, vor allem in der amerikanischen Zone und hier besonders in Bayern", erklärt Wirsching.

Auch Charlotte Knobloch träumte damals von einem Leben in der Ferne. "Ich war ja noch eine Jugendliche und wollte nur weg", sagte sie der dpa. Aber ihr Vater Fritz Neuland habe sich bewusst entschieden, zu bleiben und am Aufbau eines demokratischen Deutschland mitzuwirken.
Jüdisches Leben gehört zu Deutschland
Rechtsanwalt Neuland gründete die neue Kultusgemeinde in München mit. "Er war auch der Überzeugung, dass jüdisches Leben zu Deutschland gehört. Das sahen damals die meisten jüdischen Menschen anders", erinnert sich Knobloch. "Aber ich sage heute: Seine Entscheidung war richtig." Sie hatte den Holocaust überlebt, weil eine ehemalige Hausangestellte ihrer Familie 1942 die damals neunjährige Charlotte in ihre mittelfränkische Heimat nach Arberg mitnahm und dort als ihre Tochter ausgab.

Legitimität für das "Land der Täter"
Der Historiker Wirsching beschreibt das so: "Für die frühe Bundesrepublik war die schiere Existenz jüdischer Gemeinden ein politischer Glücksfall, untermauerte sie doch den Anspruch auf einen demokratischen Neuanfang im Land der Täter." Sie habe der deutschen Nachkriegsdemokratie ein Stück weit Legitimität verliehen. Zudem hätten die Juden in Deutschland eine wichtige Rolle für die sogenannte Wiedergutmachung gespielt.
Gegenwind gab es auch aus eigenen Reihen. "Für viele Juden in aller Welt war eine jüdische Existenz in Deutschland schlicht nicht vorstellbar und wurde geradezu als Provokation aufgenommen. Diese innerjüdische Spannung setzte sich über viele Jahre fort und löste sich erst mit der Zeit auf", erklärt er. Das Verhältnis zur nichtjüdischen Bevölkerung nennt er ambivalent.
Synagoge Ohel Jakob samt Gemeindezentrum: "Jüdisches Leben von Geburt bis Tod"
Heute ist die IKG München und Oberbayern nach Angaben Knoblochs mit rund 9300 Mitgliedern die größte in Deutschland und hat seit 2006 die neue Synagoge Ohel Jakob samt Gemeindezentrum. "Gerade in schwerer Zeit gibt es einen starken Zusammenhalt. Wir haben eine Infrastruktur, die ein jüdisches Leben von der Geburt bis zum Tod ermöglicht und gerade für junge jüdische Familien attraktiv ist." Die 92-Jährige ist seit 40 Jahren Präsidentin – für sie eine Überraschung, als sie 1985 ins Amt kam. "Ich hätte nicht gedacht, dass die Rabbiner der Berufung einer Frau zustimmen würden. Aber sie haben 'ja' gesagt, und so wurde ich Präsidentin."

Antisemitismus als wiederkehrende Begleitmusik
Getrübt wird der Festtag von aktuellen Entwicklungen. "Jüdische Menschen haben wieder Angst wie seit dem Holocaust nicht mehr. Dieser Judenhass prägt ihren Alltag", sagt Knobloch. Auch für Wirsching seien antisemitische Stimmungen, Stereotype und Vorfälle wie Hakenkreuzschmierereien oder die Schändung jüdischer Friedhöfe "eine immer wiederkehrende Begleitmusik". Knobloch sehnt sich zum 40-jährigen Amtsjubiläum nach einem: "Mein Wunsch ist es, dass jüdische Menschen in diesem Land wie alle anderen auch frei und sicher leben können. Dafür werde ich mich weiter mit aller Kraft einsetzen."
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