„Ich find’, ich mach’ mich gut!“

„Das ist doch meine letzte Chance.“ Drei Szene-Wirte, eine Pädagogin und ihr Baby namens "Roeckl": In München eröffnet das bundesweit erste Ausbildungsrestaurant für Jugendliche aus schwierigen sozialen Verhältnissen.
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Alles im Griff: Die Azubis Jenny (M.) und Tolga (l.) servieren ihren „Probe-Gästen“ das Hauptgericht. Ab Montag läuft der offizielle Betrieb im „Roeckl“.
az 3 Alles im Griff: Die Azubis Jenny (M.) und Tolga (l.) servieren ihren „Probe-Gästen“ das Hauptgericht. Ab Montag läuft der offizielle Betrieb im „Roeckl“.
Das "Roeckl"-Team (v.l.): Sandra Forster, Markus Frankl und Angela Bauer.
az 3 Das "Roeckl"-Team (v.l.): Sandra Forster, Markus Frankl und Angela Bauer.
Unterricht: Stefan Gabanyi vom "Schumann's" zeigt den Jugendlichen, was ein ordentlicher Cocktail ist.
az 3 Unterricht: Stefan Gabanyi vom "Schumann's" zeigt den Jugendlichen, was ein ordentlicher Cocktail ist.

MÜNCHEN - „Das ist doch meine letzte Chance.“ Drei Szene-Wirte, eine Pädagogin und ihr Baby namens "Roeckl": In München eröffnet das bundesweit erste Ausbildungsrestaurant für Jugendliche aus schwierigen sozialen Verhältnissen.

Graue T-Shirts, blaue Jeans – so stehen Jenny und Tolga an der Bar und warten. Das Mädchen tritt von einem Fuß auf den anderen. Der 18-Jährige hat ein Poker-Face aufgesetzt. Jeden Moment können die Gäste auftauchen. Dann müssen die Teenager beweisen, was sie drauf haben. „Möchten Sie das Wasser mit oder ohne Kohlensäure, das Steak medium, medium rare oder durch“, murmelt Jenny vor sich hin. Neben ihr verzieht Tolga keine Mine.

Der junge Türke aus Milbertshofen und die 17-jährige Fürstenriederin gehören zu den ersten Auszubildenden im „Roeckl“, dem neuen Lokal der Szene-Wirte Sandra Forster(34), Markus Frankl (43) und Michi Kern (41). Anders als im „Zerwirk“, der „Schnellen Liebe“ oder dem „Pasha“ arbeiten im „Roeckl“ (Isartalstr. 26) keine Studenten sondern Lehrlinge mit schwierigem sozialen Hintergrund: Zwölf Jugendliche aus acht Nationen lernen hier seit 1.September, was ein Koch oder eine Restaurantfachkraft wissen muss. Am Montag wird das Lokal eröffnet, diesen Donnerstag steigt die Einweihungs-Party und gleich kommen jede Menge geladene Gäste zum Probe-Abend.

"Das ist doch meine letzte Chance", sagt die 17-jährige Jenny

Jenny wirft einen letzten Blick auf die Speisekarte. Sie hat schon einmal eine Ausbildung angefangen, als Frisörin. Und hingeworfen, weil sie mit dem Chef nicht klar kam. Ein Dutzend Bewerbungen später wurde die Hauptschul-Absolventin von einer Supermarkt-Kette zum Eignungstest eingeladen – sie fiel durch. Eine Betreuerin der Ambulanten Erziehungshilfe lotste sie daraufhin ins „Roeckl“.

„Das Vorstellungsgespräch ist gut gelaufen. Da hat vor allem das Menschliche gezählt“, sagt Jenny. „Ich finde, ich passe hier perfekt rein. Die Leute sind wie eine zweite Familie für mich.“ Das zappelige Scheidungskind hat sich für einen Job im Service entschieden. „Ich gehe gerne auf Menschen zu.“ Drei Teller kann Jenny bereits auf einmal tragen – das hat sie zuhause geübt. Ob sie die Ausbildung diesmal abschließen wird? „Logo. Das ist doch meine letzte Chance.“

Auch Tolga will die Lehre unbedingt durchziehen und am liebsten noch eine Ausbildung zum Hotelmanager obendrauf satteln. Früher profilierte er sich mehr mit den Fäusten als mit Fleiß. Er hatte ständig Ärger mit der Justiz, landete mit 14 in einer betreuten Wohngruppe. Erst dort, sagt Tolga, „hab’ ich gelernt, dass man seine Aggressionen nicht an anderen auslässt, nicht stiehlt und dass es viel angenehmer ist, wenn nicht dauernd die Polizei hinter einem her ist“.

Dann schlug das Schicksal zu: Im letzten Jahr an der Hauptschule erkrankte Tolga an Brustkrebs. „Ich musste acht Monate zur Chemotherapie – da hat mir beim Quali der Stoff gefehlt“, erzählt er. Tolga verließ die Schule mit einem „einfachen Abschluss“, nahm aber einen zweiten Anlauf auf den Quali. „Blöderweise hab’ ich zwei Prüfungen verpeilt, weil ich den Zettel mit den Terminen verloren hatte. Die wurden mit Sechs bewertet.“ 40 Bewerbungen blieben unbeantwortet, dann wurde auch für Tolga das „Roeckl“ zum Rettungsring.

Die Idee, es dem Briten Jamie Oliver gleichzutun, der in London seit 2001 ein Ausbildungsrestaurant für benachteiligte Jugendliche betreibt, hatte Angela Bauer (45) von der Heilpädagogisch-psychotherapeutischen Kinder- und Jugendhilfe (hpkj). „Projekte, die ein bisschen von der klassischen Jugendarbeit weggehen, faszinieren mich“, sagt sie, suchte ein geeignetes Lokal – und wurde am Roecklplatz fündig. Bauer bat die „Arge“, das Jugendamt und den Europäischen Sozialfonds um Zuschüsse für Personal und Ausbildung (die Jugendlichen verdienen im ersten Jahr 550 Euro brutto, dann 610 und zuletzt 700). „Alles andere muss über Spenden und Einnahmen finanziert werden.“

Ein Tag pro Woche ist für Nachhilfe und Förderung reserviert

Forster, Frankl und Kern als stiller Teilhaber waren schnell überzeugt. „In der Gastronomie arbeitest du im Team und darfst die anderen nicht hängen lassen“, schildert Forster die therapeutischen Vorzüge des Konzepts. „Außerdem sind die Ergebnisse schnell sichtbar.“ Die Vorbereitungsphase sei gut gelaufen, erzählt sie. „Es gab kaum Probleme – außer ein paar Zuspätkommern, ein bisschen Rumgemaule und einigen Versuchen, sich vor der Arbeit zu drücken.“ Doch Forster ist sicher, dass ihr Küchenchef und die beiden Restaurantleiterinnen den Jugendlichen die Praxis schon beibringen werden.

„Schwieriger wird’s mit der Berufsschule“, glaubt sie. „Von Leuten in dem Alter kann man nicht erwarten, dass sie Mathe gut finden. Ich fand’s früher auch uncool.“ So uncool, dass sie sich im Unterricht die Nägel lackierte, oft gar nicht erschien und nach mehreren Disziplinarverfahren Besuchsverbot für alle bayerischen Gymnasien erhielt. Ihr Abitur machte Forster an der Fachoberschule für Sozialwesen. Um ihre Schützlinge ohne Umwege ans Ziel zu bringen, ist pro Woche ein Tag für Förderunterricht, Nachhilfe und Gespräche mit den beiden Sozialpädagoginnen reserviert, die zum Team gehören.

Der Arbeitstag im „Roeckl“ beginnt zwischen 15 und 16.30 Uhr – je nach Betätigungsfeld. Tolga hat heute Nachmittag die Fenster geputzt. Die anderen vom Service haben die Tische eingedeckt. Servietten alle in dieselbe Richtung, Messerschneide immer zur Gabel und bloß keine Tappser auf Geschirr und Gläsern hinterlassen, lautet die Devise. In der Küche trafen Michi Aßbeck(39) und sein Team Vorbereitungen für den Abend. Auf der Speisekarte für den Probe-Durchlauf stehen unter anderem eine weiße Tomatensuppe, drei verschiedene Salate, Steinpilzravioli, Morchelrisotto und Schnitzel.

Die Rollen hinter der Schwingtür zum Gastraum sind klar verteilt: Küchenchef Aßbeck ist fürs Fleisch zuständig, Wasan aus Thailand für die Salate. Der 17-jährige Nino richtet die Speisen an, die gleichaltrige Teresa kümmert sich ums Panieren und die Beilagen. „Ich bin eher schüchtern“, sagt sie und verrührt Eier mit Pilzen. „Servieren wäre nichts für mich.“

Bevor es ernst wird, steht noch ein besonderer Lehrgang auf dem Programm: Stefan Gabanyi, der Barmann vom „Schumann’s“, kommt vorbei, um die Jugendlichen in die bunte Welt der Longdrinks einzuführen. Eineinhalb Stunden lang dreht sich alles um Wodka, Rum und ihre Brüder.

Tolga macht sich eifrig Notizen. Einige nippen mit Eifer an den Drinks. Jenny verzieht das Gesicht. Ihr wird schlecht, wenn sie Alkohol nur riecht. „Wir müssen nicht alles mögen, was unsere Gäste bestellen“, tröstet der Profi, „aber wir sollten es mixen können“.

Jetzt noch schnell gemeinsam zu Abend gegessen und eine letzte Team-Besprechung, dann heißt es: Action!

Tolgas Tisch füllt sich als erster. Die beiden Damen und ihre Begleiter können sich lange nicht entscheiden, was sie essen möchten. Die Rinderlende, das Filet oder doch lieber Schnitzel? Tolga bleibt gelassen. Er lächelt und gibt bereitwillig Auskunft über Beilagen und Soßen. Einige Meter weiter dasselbe Spiel: Auch Jenny muss Fragen beantworten. Was ist das für Fleisch in den Spaghetti? Welche Füllung haben die Ravioli? „Kein Problem“, flüstert sie, als die Bestellung aufgenommen ist. „Ich hab’ die Speisekarte auswendig gelernt.“ Trotzdem sind ihre Wangen vor Aufregung gerötet.

Die Gäste spüren, wie ernst Tolga seine Aufgabe nimmt

Was Jenny nicht weiß: Die Dame – sämtliche Gäste wurden vom Trägerverein eingeladen – hat sie absichtlich gequält. „Als ich merkte, dass die junge Frau gut vorbereitet war, hab’ ich ihr noch ein paar freche Fragen dazu gestellt. Aber sie hat alles gewusst und war sehr freundlich“, sagt sie.

Es läuft prima für Jenny und Tolga. Die beiden vergessen kein Gericht und kein Getränk, befördern Desserts, Suppen und Hauptspeisen unfallfrei an ihre Tische. Auch Tolgas Kundschaft ist zufrieden. Sehr freundlich, den Gästen sehr zugewandt, so ihr Urteil. „Man fühlt eine sympathische Aufregung, die spüren lässt, wie ernst das genommen wird“, lobt ein Herr im Anzug.

Und was sagt Tolga nach dem Blick hinter sein Poker-Face? „Ich find’, ich mach’ mich gut!“

Natalie Kettinger

Das „Roeckl“ unterteilt sich in zwei Bereiche: eine Wirtschaft mit Bar, in der etwa 60 Gäste Platz haben, sowie ein Restaurant mit 50 Sitzplätzen. Auf der Wirtschafts-Karte stehen unter anderem Wiener-Schnitzel (14,80 Euro), Forellenfilet (11,80 Euro), Suppe mit Kartoffeln und Pastinaken (4,80 Euro) sowie Salat mit gebackenen Mais-Kartoffelküchlein (10,80 Euro). Im Restaurant stehen jeden Abend zwei Menüs zur Auswahl. Die Küche ist Bio-Komponenten zertifiziert. Adresse: Isartalstraße 26, Mo. – Sa. 18 bis 1 Uhr, www.roeckl-restaurant.de

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