Humedica-Helferin Maren Mistele über Notlage in Haiti: "Ihr habt uns Hoffnung gebracht"

Genau vor einem Monat, am 14. August, sterben beim Erdbeben in Haiti über 2.200 Menschen. Mehr als 100.000 Häuser sind zerstört. Eine Humedica-Helferin aus München ist nun zurück und erzählt.
Rosemarie Vielreicher |
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Viele haben ihr Zuhause verloren und müssen es wieder neu aufbauen.
Viele haben ihr Zuhause verloren und müssen es wieder neu aufbauen. © privat

München - AZ-Interview mit Maren Mistele: Die 28-Jährige aus München arbeitet eigentlich als Projektleiterin, war aber schon während des Studiums bei einem ehrenamtlichen Einsatz in Haiti - und nun zwei Wochen als Koordinatorin mit einem medizinischen Team der bayerischen Organisation Humedica vor Ort.

AZ: Frau Mistele, vor einem Monat hat ein schweres Erdbeben Teile von Haiti verwüstet. Durch andere Notsituationen auf der Welt, zum Beispiel in Afghanistan, ist Haiti allerdings aus dem Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Wie ist die Lage vor Ort?
MAREN MISTELE: Das Erdbeben hat eine ländliche Region getroffen, die ohnehin arm ist. In den Dörfern, in denen wir waren, sind über 90 Prozent der Häuser zerstört worden. Es war erschütternd zu sehen, wie wenig geblieben ist. Die Menschen haben auf den Trümmern der Häuser noch ihre Klamotten getrocknet und haben sich Bleche herausgesucht, um sich unter einem Baum einen Notverschlag zusammenzuzimmern.

Maren Mistele
Maren Mistele © privat

Heißt das, dass viele Menschen auch mehrere Wochen nach dem Beben noch unter freiem Himmel schlafen müssen?
Die meisten ja. Selbst wenn noch Reste des Hauses stehen, haben viele Angst, dass es Nachbeben gibt oder das Haus einstürzt, wenn man es betritt. Ich habe einen Übersetzer getroffen, dessen Frau hat ihm aus Angst verboten, das Haus nochmal zu betreten - und er meinte aber, es seien noch so viele wichtige Dinge darin. Er hat sich also ans Fenster gestellt, hat genau geschaut, wo die Sachen sind, die er braucht, und dann ist er ganz schnell hineingesprintet. Deswegen ist eines der wichtigen Themen unseres lokalen Projektpartners jetzt, die Menschen zu befähigen, sich Unterkünfte zu errichten. 30 Wellbleche plus Nägel sollen sie jeweils bekommen - damit sollen sich die Menschen wieder ein Heim aufbauen können, inklusive der Hölzer und Steine, die sie noch haben. Sie brauchen ein Dach über dem Kopf. Auch, um sich vor der Regenzeit zu schützen.

Wie geht es den Menschen nach dieser Tragödie?
Medizinisch hat unser Team immer noch viele, zum Teil infizierte Wunden versorgt. Es kommt jetzt auch gehäuft zu Erkrankungen, die aufgrund der anhaltend schwierigen Lebensumstände auftreten.

Zum Beispiel?
Durch die zusammengebrochene Wasserinfrastruktur trinken die Menschen aus Flüssen - die Folge: schwere Durchfall- und Wurmerkrankungen, zudem Bauchschmerzen durch anhaltenden Hunger. Aufgrund der mangelnden Hygiene beim Leben unter freiem Himmel treten auch vermehrt Hauterkrankungen wie Krätze und Pilzbefall sowie Bronchitiden auf.

Andere internationale Organisationen haben mitgeteilt, dass es sehr schwierig ist, die Menschen überhaupt zu erreichen, weil viele Straßen und auch Brücken zerstört sind. Wie haben Sie das wahrgenommen?
Ja, wir hatten auch ein Team, das im Vorfeld geschaut hat, wie wir mit dem medizinischen Team in der Region überhaupt vorankommen können. Es hat auch viele Erdrutsche gegeben, auch poröse Felsen sind abgebrochen und haben Straßen blockiert. Stück für Stück wird das wieder freigeräumt. Zerstörte oder auch überschwemmte Brücken haben es uns nicht möglich gemacht, noch weiter in die Berge zu fahren. Deswegen sind dann die Menschen runtergestiegen und zur mobilen Klinik gekommen. Für viele ist es unmöglich, ins nächste Krankenhaus in der Stadt zu gehen. Denn der Weg dorthin ist lang und damit sind die Kosten zu hoch - es hat keiner ein Auto oder ein Motorrad. Das entspricht dann vielleicht sogar dem Monatslohn, den sie für die Versorgung aufwenden müssten.

Eine Humedica-Helferin in der mobilen Klinik
Eine Humedica-Helferin in der mobilen Klinik © privat

Es sind über 2.200 Menschen gestorben. Konnten sie schon beerdigt werden?
Soweit ich das mitbekommen habe, ja. Es gab auch einige Trauergottesdienste in dieser Zeit. Das ist für die Menschen kulturell sehr wichtig, Abschied von ihren Angehörigen zu nehmen.

Es ist nicht das erste Erdbeben, das Haiti trifft. Wie gehen die Menschen damit um? Nimmt dieser erneute Rückschlag ihnen den Mut, oder sagen sie eher: Wir schaffen es wieder.
Das kann man nicht pauschal beantworten. Ich denke, sie haben über die Jahre gelernt, dass erdbebensicheres Bauen wichtig ist. Aber die Menschen können sich ja nicht einfach etwas wegsparen. Es geht hier eher um das tägliche Überleben.

Wie lange wird es dauern, um alles wieder aufzubauen?
Lange. Dazu kommt: Den Menschen fehlt jetzt nicht nur ihr Zuhause, viele leben auch von der Landwirtschaft. Viele der Gebiete sind aber abgestürzt, die diesjährige Ernte ist dadurch zerstört. Sie haben nach dem Beben auch Angst, wieder in die Berge zu gehen.

Wie haben Sie Ihren Einsatz und das Zusammentreffen mit den Menschen erlebt?
Wir waren in mehreren Dörfern aktiv und die Menschen haben uns gesagt: "Ihr habt uns die Hoffnung gebracht, weil ihr uns eure Aufmerksamkeit schenkt und wegen uns hierher gekommen seid, obwohl es nicht leicht zu erreichen ist." Oft ist es auch nicht nur die medizinische Versorgung, die gebraucht wird, sondern ein offenes Ohr. Die Menschen haben schließlich Traumata erlebt.

Was hat Sie am meisten schockiert?
Ich bin einmal mit meinem Team zu einem schwer erreichbaren Bergdorf hochgelaufen. Die dreistöckige Schule war völlig zerstört. Ein älterer Herr kam auf uns zu und meinte: "Schaut euch an, wie schlimm das ist. Unseren Kindern wird die Chance auf Bildung genommen." Es tut weh zu sehen, dass für die Kleinen die Schulbildung, die bei uns hier selbstverständlich ist, sozusagen komplett zusammengestürzt ist.

Gab es auch einen schönen Moment Ihres Einsatzes, der Ihnen in Erinnerung bleibt?
Selbes Dorf, 100 Meter weiter: die Dankbarkeit, aber auch, dass nicht nur wir ihnen Hoffnung bringen, sondern sie diese auch auf uns ausstrahlen. Sie wollen alles wieder aufbauen, haben Ziele, sind als Gemeinschaft hochmotiviert. Ich finde es wichtig, dass das nicht nur von außen hineingetragen wird, sondern auch von innen kommt. Das gibt uns das Gefühl: Wir waren am richtigen Ort, haben den richtigen Menschen geholfen. Erst medizinisch und dann hoffentlich langfristig mit den geplanten Projekten.

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