Hoffen auf ein Licht im Dunkel

Gabriele Capallo-Wahle (70) ist chronisch krank. Ihr Mann ist tot. Ihr ältestes Kind ist tot. Ihr Sohn Oliver ist nach einer Amputation auf den Rollstuhl angewiesen. Wie die Frau mit all dem fertig wird
von  Abendzeitung
Gabriele Capallo-Wahle und ihr Sohn Oliver leben im Stadtteil Harthof. Sie würden gerne in eine behindertengerechte Wohnung umziehen.
Gabriele Capallo-Wahle und ihr Sohn Oliver leben im Stadtteil Harthof. Sie würden gerne in eine behindertengerechte Wohnung umziehen. © abendzeitung

MÜNCHEN - Gabriele Capallo-Wahle (70) ist chronisch krank. Ihr Mann ist tot. Ihr ältestes Kind ist tot. Ihr Sohn Oliver ist nach einer Amputation auf den Rollstuhl angewiesen. Wie die Frau mit all dem fertig wird

All diese Schicksalsschläge – jeder für sich genommen hätte einen Menschen brechen können. Wenn Gabriele Capallo-Wahle von ihrem Leben erzählt, dann ist das eine unfassbar traurige Geschichte. Sie handelt von Schmerzen. Von Krankheit. Von Tod.

„Du gibst mir die Kraft, weiterzumachen“, sagt die 70-Jährige und blickt ihren Sohn Oliver dabei fest an. Die beiden leben am Harthof im Münchner Norden. Er sitzt im Rollstuhl. Sie kann sich nur noch mühsam mit Hilfe eines Rollators bewegen. Das Leben findet fast nur noch hier statt, in der Wohnung. In zwei Glasvitrinen starren dutzende Puppen stumm vor sich hin. Keine einzige davon stammt aus der Kindheit von Gabriele Capallo-Wahle.

Sie beginnt, zu erzählen. Chronologisch. Ganz ruhig. 1939 wird sie bei Schweinfurt geboren. Ihr Elternhaus ist die Hölle. Die bigotte Mutter – eine gewalttätige Person. Sie geht mit dem Messer auf ihre Tochter los, nur weil diese etwas verschüttet hat. Die Narbe am Arm ist noch deutlich zu sehen. Arbeit und Schläge. Schläge und Arbeit. Das sind ihre Kindheitserinnerungen.

Die brutalen Misshandlungen fallen auf: Zeitweise wächst Gabriele deshalb im Heim auf. Doch die Eltern holen sie zurück. Erst als der Vater von einem in der Nachbarschaft lebenden Polizisten dabei erwischt wird, wie er seine eigene Tochter vergewaltigt, endet ihr Martyrium. Sie kommt wieder in ein Heim. 14 Jahre ist sie alt. Ihren Vater sieht sie nie wieder. Ihre Mutter erst, als diese aufgebahrt im Sarg liegt.

Als Jugendliche verlässt Gabriele ihre alte Heimat. Sie zieht nach Ottobrunn in ein Wohnheim für Krankenhaus-Beschäftigte. Ein 16 Jahre altes Nervenbündel. Nach einem Zusammenbruch kommt sie wieder zu Kräften, macht eine Lehre zur Krankenschwester. Ihr Traumberuf. Doch ihre Gesundheit spielt nicht mit. Nach zwei Unterleibs-Operationen darf sie den Job nicht mehr ausüben. Viele weitere Eingriffe sollen in den kommenden Jahrzehnten noch folgen. Das größte Problem ist der Rücken. Er ist total zerschlissen. „Weil ich als Kind so viel schleppen musste“, sagt Capallo-Wahle.

Einige Jahre verläuft ihr Leben nach dem klassischen Muster. Sie heiratet, bekommt vier Kinder. Glücklich ist die Ehe nicht. Trotzdem hält sie 24 Jahre lang. Damit das Geld reicht, trägt die Frau Zeitungen aus. „Irgendwann ging’s nicht mehr, weil mein Kreuz total im Eimer war.“ Die Krankenhausaufenthalte dauern immer länger. Die Familie zerbricht.

Heute, mit 70, kann Capallo-Wahle ihren Hals nicht mehr bewegen. Sie kann nicht lange sitzen. Und nicht lange stehen. Sie hat chronische Schmerzen. Seit 1991 nimmt sie starke Artzney. Wirken tun sie nicht immer. Inmitten ihrer Erzählung muss sie sich auf der Couch ausstrecken. Doch auch in der Position hält sie’s nicht lange aus.

Es gab auch glückliche Zeiten. Als sie ihren zweiten Mann Arno kennenlernt, ist es Liebe auf den ersten Blick. „Wir haben uns angeschaut, als wenn der Blitz eingeschlagen hat.“ Die Ehe sei einmalig gewesen. „Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas Schönes erleben darf.“ Zehn Jahre. Mehr war ihnen nicht vergönnt. 1994 bricht die Welt zusammen.

Schon seit Jahren hatte ihr Sohn Oliver immer wieder Kopfschmerzen. Als er 28 ist, wird bei ihm eine Gefäßmissbildung im Gehirn festgestellt, so groß wie eine Faust. Nach der Operation liegt er sieben Wochen lang im künstlichen Koma. Auch für den Stiefvater ist das eine große Belastung. Einmal findet ihn Gabriele Capallo-Wahle weinend auf dem Sofa vor. „Der liebe Gott soll lieber mich holen und den Oliver leben lassen“, erinnert sie sich an seine Worte.

Oliver überlebt. Doch kurz nachdem er wieder zu Bewusstsein gekommen ist, geht es seinem Stiefvater plötzlich schlechter. Seit Jahren ist Arno Wahle herzkrank. Die Sorgen um den jungen Mann haben ihn stark belastet. Er erleidet einen Infarkt. Während er in den Armen seiner Ehefrau liegt, hört sein Herz auf zu schlagen. 54 Jahre ist er alt geworden.

Gabriele Capallo-Wahle ist am Ende. Den Verlust ihrer großen Liebe hat sie nie verwunden. Um den Hals trägt sie eine goldene Kette mit den beiden Eheringen. „Das gibt mir das Gefühl, als wenn er neben mir sitzt. Manchmal meine ich sogar, ich spüre seine Wärme.“

Als Oliver aus dem Krankenhaus entlassen wird, nimmt sie ihn bei sich auf. Nach der Hirn-OP ist er halbseitig gelähmt. Inzwischen ist er 44 Jahre alt. Vor mehr als drei Jahren wurde ihm der Unterschenkel amputiert – die Folge starker Durchblutungsstörungen. Letztes Jahr nahmen die Ärzte noch mehr von dem Bein ab, weil eine Infektion nicht heilen wollte.

In all dem Elend versuchen Mutter und Sohn, sich gegenseitig zu helfen, wo es nur geht. Sie versuchen, sich Kraft zu geben. Auch als nach all dem noch ein weiterer Schicksalsschlag dazukommt: Thomas, der älteste Sohn von Gabriele Capallo-Wahle, erhängt sich. 2007 war das. Sein Foto steht neben dem ihres verstorbenen Mannes Arno. Es zeigt einen attraktiven Mann vor einem blühenden Raps-Feld. Bis heute kann seine Mutter nicht verstehen, warum er das getan hat. Warum er sich das Leben nahm.

Warum? Das ist eine Frage, die sie sich oft stellt. Warum all das? „Ich hadere schon“, sagt sie. Trotzdem schauen sie und ihr Sohn Oliver in die Zukunft, sie haben Pläne und Wünsche.

Sie würden gerne in eine bezahlbare behindertengerechte Wohnung ziehen. Jetzt trennen fünf Treppenstufen Oliver vom Leben jenseits der eigenen vier Wände. Seit März war er nicht mehr draußen. Seit acht langen Monaten. Dann ging auch noch sein Computer kaputt. „Der ist mein Tor zu Außenwelt“, sagt er. „Damit kann ich ein bisserl abschalten.“

Für sich selbst würde Gabriele Capallo-Wahle gerne eine neue Matratze kaufen. Die alte hat sie schon seit 16 Jahren. Sie ist durchgelegen. Deshalb schläft sie ganz am Rand. „Ich weiß nicht, wie lange ich es noch durchhalte, das richtige Eckerl zu finden.“

Doch das Geld ist knapp. Zu teuer waren die Erkrankungen von Mutter und Sohn in der Vergangenheit. Nicht mal einen Christbaum wollen sich die beiden heuer gönnen. Dabei würde er sicher ein bisschen Freude bringen. In die Wohnung mit den vielen Puppen. Von denen nur ganz wenige lächeln.

Julia Lenders

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